Bundesregierung gibt Milliarden aus Wie gerecht ist Deutschland?

Düsseldorf · Die Bundesregierung will Milliarden für mehr Gerechtigkeit in Deutschland ausgeben. Aber geht es in Deutschland wirklich so ungerecht zu? Fünf gängige Vorurteile über Einkommen, Vermögen und Chancen am Arbeitsmarkt im Faktencheck.

13 Fakten zu Hartz IV
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Foto: dpa, Oliver Berg

Mit teuren Geschenken will die große Koalition Deutschland gerechter machen: abschlagsfreie Rente ab 63 für langjährig Versicherte, verbesserte Mütterrente, Aufstockung der Erwerbsminderungs-Rente und bessere Reha-Leistungen — bis 2030 kosten diese Pläne pro Jahr rund neun bis elf Milliarden Euro. Hinzu kommt der verabredete gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, der aus Sicht vieler Experten Arbeitsplätze ins Ausland vertreibt. Ist Deutschland wirklich so ungerecht, dass die Bundesregierung gegensteuern muss? Fünf (Vor-)Urteile im Faktencheck.

"Trotz lebenslanger Vollzeitarbeit reicht die Rente nicht mehr."

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) sagt: Wer als Durchschnittsverdiener 40 Jahre gearbeitet hat, kommt in Westdeutschland auf eine Bruttorente von 1125 Euro pro Monat (Ost: 1030 Euro). "Da sich der Wert auf den Durchschnitt aller Teil- und Vollzeitkräfte bezieht, liegt der Wert für reine Vollzeitkräfte deutlich darüber", so das IW. Die Stiftung "Denkwerk Zukunft", die am Dienstag eine große Studie zum Thema "Wohlstand und Verteilungsgerechtigkeit" vorstellt, sagt: In Zukunft wird das Vorurteil wahr. Geschäftsführerin Stefanie Wahl: "Gerade die jetzt versprochenen neuen Rentenleistungen höhlen die Kassen immer mehr aus. Ab 2025 wird die gesetzliche Rente in Deutschland auf Grundsicherungsniveau liegen." Das liegt heute bei 685 Euro im Monat.

"Immer mehr Menschen können von ihrer Arbeit nicht leben."

Vorurteile über Hartz-IV-Empfänger
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Foto: dpa, Hendrik Schmidt

Das IW bestreitet das. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten, die ergänzend Arbeitslosengeld beziehen, lag im Juli bei knapp 190 000. "Das entspricht 0,9 Prozent der Vollzeitbeschäftigten", so das IW. Offenbar kommt es auf die Definition von "leben" an. Das IW meint eher das Überleben. Viele Löhne sind zwar zu hoch für einen Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld, reichen aber trotzdem kaum. Das Forschungsinstitut der Bundesarbeitsagentur (IAB) schreibt in seinem Januar-Bericht: "Fast ein Viertel aller deutschen Beschäftigten bezog 2010 Niedriglohn, also weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns." Die Ungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung sei in Deutschland größer als im überwiegenden Teil der EU. Immerhin blieb die Niedriglohn-Quote laut Denkwerk in den vergangenen Jahren weitgehend stabil. Zumindest das "immer mehr" dieses Vorurteils stimmt demnach nicht.

"Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt."

Laut Statistischem Bundesamt verdienten Frauen 2012 rund 22 Prozent weniger als Männer. Das IW kritisiert diese Zahl. "Werden Entgelte von Frauen und Männern verglichen, die sich bei Ausbildung, Berufserfahrung und Erwerbsumfang nicht unterscheiden, schrumpft der Entgeltabstand auf zwei Prozent." Laut IAB stieg die Zahl der berufstätigen Frauen von 1991 bis 2010 um 16 Prozent. Mit einer Erwerbstätigenquote von 71,5 Prozent liegen deutsche Frauen über dem Durchschnitt der EU-Länder (62,4 Prozent). Allerdings sei das auf ihre zunehmende Teilzeitarbeit zurückzuführen. Denkwerk-Expertin Wahl: "Frauen bekommen nicht weniger Jobs, aber oft schlechtere. Darum verdienen sie im Schnitt weniger als Männer."

"Die Mittelschicht schrumpft."

Dazu Stefanie Wahl: "Das stimmt. Aber nicht nur, weil viele absteigen, sondern auch, weil einige aufsteigen." Unterm Strich stiegen mehr ab als auf. Insgesamt habe der gute Arbeitsmarkt der vergangenen Jahre aber "eindeutig zu einer Stabilisierung der Lage beigetragen". Die IW-Forscher haben anders gerechnet, weil sie "Mittelschicht" anders definiert haben und einen anderen Zeitraum betrachten. Ihr Ergebnis: "Aktuell gehören der Mittelschicht in etwa genauso viele Personen an wie zu Zeiten der Wiedervereinigung."

"Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer."

Laut IW haben sich die Einkommen in den letzten Jahren — nach einem Anstieg der Einkommensungleichheit um die Jahrtausendwende — in Deutschland wieder angenähert. "Die ärmsten zehn Prozent konnten ihre Einkommen von 2005 bis 2011 um knapp sechs Prozent steigern. Die realen Nettoeinkommen der obersten zehn Prozent stagnieren hingegen", so das IW. Denkwerk-Expertin Wahl sagt: "Der materielle Durschnittswohlstand hat sich insgesamt stark verbessert. Deutschland ist mit Schweden das einzige westliche EU-Land, dem es heute besser als vor der Wirtschaftskrise 2008 geht." Davon zumindest profitieren alle — entweder über weniger stark steigende Steuern oder über langsamer sinkende Sozialleistungen.

(tor)
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