Flüchtlinge Die wichtigsten Fragen zu Angela Merkels "Kontingentlösung"

Berlin · Die Kanzlerin will mit der Türkei feste Kontingente für Flüchtlinge vereinbaren, die auf die EU-Staaten aufgeteilt werden sollen. Wie soll das konkret gehen? Und warum ist das besser als eine "Obergrenze", wie sie die CSU fordert? Der Überblick.

Flüchtlinge warten an der deutsch-österreichischen Grenze in Wegscheid bei Passau.

Flüchtlinge warten an der deutsch-österreichischen Grenze in Wegscheid bei Passau.

Foto: ap

In Berlin kursiert ein neues Zauberwort, es lautet "Kontingentlösung". Sie ist die Antwort der unter Druck stehenden Kanzlerin auf alle, die wie die CSU lautstark nach einer "Obergrenze" für den Flüchtlingszuzug rufen. Eine solche Obergrenze lehnt Angela Merkel ab - und stellt stattdessen nun feste europäische Kontingente in Aussicht, mit denen der Zuzug gesteuert und begrenzt werden solle. Ob die Kanzlerin damit Erfolg hat, hängt von sehr vielen Faktoren ab, die sie kaum selbst beeinflussen kann. Die Skeptiker in den eigenen Reihen konnte sie daher mit diesem Vorschlag nicht überzeugen.

Die EU würde sich bereit erklären, der Türkei und später auch anderen Zufluchtsländern wie Jordanien oder dem Libanon pro Jahr eine bestimmte Zahl an Kriegsflüchtlingen aus Syrien abzunehmen. Die Kontingentflüchtlinge würden nach vereinbarten Quoten auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verteilt. Darüber müsste sich die Kanzlerin zunächst mit den Regierungschefs der anderen EU-Länder einig werden. Die Türkei soll sich im Gegenzug verpflichten, die Flucht über das Mittelmeer nach Griechenland zu unterbinden. Auch die südosteuropäischen Länder müssten zugleich eine wirksame Sicherung der EU-Außengrenzen organisieren. Die Regierung setze auf eine europäische Kontingentlösung, bestätigte gestern Vize-Regierungssprecher Georg Streiter. Ein Element der Lösung sei die geplante EU-Vereinbarung mit der Türkei. Dem Vernehmen nach will Merkel deshalb noch vor Weihnachten ein zweites Mal in die Türkei reisen.

Eine Obergrenze zu ziehen würde am Ende nichts anderes bedeuten, als dass Deutschland seine Grenzen schließt, wenn eine politisch festgelegte Zahl an Flüchtlingen erreicht wäre. Dagegen würde ein Kontingent nur die Zahl derer festlegen, die über diesen speziellen Weg nach Deutschland kommen. Der Weg über das Asylrecht stünde weiter allen anderen offen; der Zuzug über Kontingente käme zusätzlich. Doch hofft die Kanzlerin, durch die Vereinbarung mit der Türkei, die Sicherung der EU-Außengrenzen und die Umverteilung auf ganz Europa die Zahlen für Deutschland zu reduzieren. "Kontingente sind eine gute und sinnvolle Möglichkeit, den Flüchtlingszuzug nach Europa zu steuern und zu begrenzen. Kontingente sind dabei nur denkbar statt des jetzigen ungeordneten Zuzugs und natürlich nicht zusätzlich", betont CDU-Innenpolitiker Ansgar Heveling.

Die Obergrenze sei schon rechtlich nicht möglich, weil es kein begrenztes Grundrecht auf Asyl gebe, argumentiert Merkel. Andere setzen dem entgegen, der Asylanspruch erlösche, wenn ein Schutzbedürftiger aus einem sicheren Drittstaat wie Österreich komme. Würde Deutschland eine Obergrenze definieren und Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen, würde sich nicht nur die humanitäre Lage auf der Balkanroute verschärfen. Deutschland würde damit auch den Schengen-Raum mit seinen offenen Binnengrenzen, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention außer Kraft setzen. "Es ist sinnlos, ständig eine Obergrenze zu fordern, die sich praktisch gar nicht umsetzen lässt, da hat die Kanzlerin recht", sagt Unionsfraktionsvize Michael Fuchs. "Stellen wir uns vor, die Obergrenze liege bei einer Million Flüchtlingen im Jahr. Was machen wir dann mit dem Flüchtling Nummer 1.000.001? Wir können keinen Zaun um Deutschland bauen, wir leben im europäischen Binnenmarkt."

Deutschland hatte für 20.000 Syrer bereits 2013/14 ein nationales Kontingentprogramm gestartet. Die Kriegsflüchtlinge, die ein deutsches Visum erhielten, wurden vom UN-Flüchtlingshilfswerk ausgewählt und zum Teil mit Charter-Flügen nach Deutschland gebracht. Viele mussten ihre Reise selbst organisieren.

Parteichef Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier haben zuletzt in einem Gastbeitrag für "Spiegel Online" argumentiert, eine Kontingentlösung würde eine geordnete und sichere Aufnahme für Bürgerkriegsflüchtlinge bedeuten statt "chaotischer und ungesteuerter Zuwanderung". Als Staat habe man dabei mehr Kontrolle, wer ins Land komme, weil Antragstellung, Identitätsfeststellung und Registrierung vor der Einreise stattfinden. Dabei plädiert die SPD für eine Bevorzugung von Frauen und Kindern.

Die SPD gibt an, man könne feste Obergrenzen rechtlich nicht definieren. Sie ließen sich nur durch die Abschaffung des individuellen Asylrechts in der deutschen Verfassung erreichen. Das ist eine rote Linie für die SPD.

Merkel müsste kurzfristig enorme diplomatische Erfolge erzielen. "Wichtig ist, dass alle politisch Verantwortlichen zu raschen und konsequenten weiteren Beschlüssen gelangen. Daran haben wir derzeit unsere Zweifel", sagt Hans-Günter Henneke, Hauptgeschäftsführer des Landkreistages. Bisher weigern sich viele EU-Länder weiterhin, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Zudem ist unwahrscheinlich, dass es kurzfristig gelingt, die EU-Grenzen zu sichern. Das Vertrauen in Griechenland und die Türkei ist nicht groß. Die Kontingentlösung geht "nicht von heute auf morgen", wie Heveling sagt. Sie wird Zeit kosten - die Deutschland womöglich nicht hat.

Diese Häuser sind Flüchtlingsunterkünfte
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Foto: prof joerg friedrich/ institut fuer gebaeudelehre und entwerfen leibniz / universitaet hannover

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