Andrea Nahles im Interview "Wir brauchen eine neue soziale Balance in Deutschland"

Berlin · Die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles verrät im Gespräch mit unserer Redaktion, wie sie über die soziale Ungerechtigkeit in Deutschland denkt, wie sich ihr Verhältnis zu Peer Steinbrück verändert hat und ob sie sich einen Ministerposten im Falle eines Wahlsieges von Rot-Grün vorstellen kann.

Die Karriere der Andrea Nahles
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Weltweit ist ein Netz von Steuerbetrügern aufgedeckt worden. Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Nahles Die Bundesregierung hat in den vergangenen drei Jahren keine Priorität auf die Bekämpfung der Steuerhinterziehung gelegt. Im Gegenteil: Das halbseidene Abkommen mit der Schweiz schützt die Steuerhinterzieher auch noch. Wir erwarten drei zentrale Maßnahmen der Bundesregierung.

Welche sind das?

Nahles Zunächst muss Deutschland über die EU oder bilateral den automatischen Informationsaustausch zu Steuerhinterziehern mit den Ländern vereinbaren, die diese Praktiken dulden. Das haben die USA längst getan. Zweitens muss der Gesetzgeber Strafen für Banken und Finanzinstitute einführen, die bei der Hinterziehung von Steuern helfen und entsprechende Modelle erarbeiten. Das kann im Zweifel bis zum Entzug der Banklizenz gehen. Drittens muss die Steuerverwaltung in Deutschland personell und finanziell aufgerüstet werden, damit Waffengleichheit mit den Steuerbetrügern herrscht. Das alles geht nicht mit einem Federstreich, aber ein solches Maßnahmenpaket muss sofort und konsequent angegangen werden. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt sondern ein Verbrechen.

Auch ihr französischer Parteifreund, Präsident François Hollande, hat in seinem Umfeld Ärger mit Politikern, die angeblich schwarze Konten in Steuerparadiesen unterhalten. Wird die Nähe zu Hollande im Bundestagswahlkampf für die SPD zur Belastung?

Nahles Ach was. Ich glaube Hollande, dass er davon selbst nichts gewusst hat. Hollande ist willkommener Gastredner bei den Feierlichkeiten der SPD zum 150-jährigen Bestehen im Mai in Leipzig.

Weitere Wahlkampfveranstaltungen im Sommer sind nicht geplant?

Nahles Wir brauchen keine Internationalisierung des Bundestagswahlkampfs. Es geht um eine Bundestagswahl. Wir kämpfen mit unserem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück für den Wechsel, für eine rot-grüne Bundesregierung und erklären in vielen Veranstaltungen, wie unsere Ideen und Konzepte für ein neues Regierungsmodell aussehen. Bei der Europawahl im nächsten Jahr wird es sicher einen engen Schulterschluss mit den französischen Sozialisten und anderen Parteifreunden in Europa geben.

Sie sind Wahlkampfchefin der SPD und des Kanzlerkandidaten. Finden Sie Peer Steinbrück eigentlich selbst sympathisch?

Nahles Na klar! Ich habe selten so leicht und ungezwungen mit jemandem lachen können wie mit Peer Steinbrück. Unser Verhältnis ist unkompliziert und professionell.

Vor einigen Jahren haben sie sich im Präsidium noch angegiftet.

Nahles Wir haben beide einen neuen Weg des Miteinander gefunden. Was früher war, war früher. Wir schauen nach vorne und arbeiten gut und eng zusammen. Das freut mich auch persönlich sehr.

Wie erklären sie sich die schlechten Umfragewerte für Steinbrück?

Nahles Die Partei ist so selbstbewusst und harmonisch wie selten zuvor. So viel Konsens habe ich in all den Jahren, in denen ich im Parteivorstand bin, nicht erlebt. Und was Peer Steinbrück angeht, so hat er selbst zugestanden, dass der Start etwas holprig war. Aber was in den letzten Monaten an medialem Dauerfeuer über ihn erging, ist oft unsachlich, und nicht nachvollziehbar. Da wird viel aufgebauscht, aus dem Zusammenhang gerissen und aus alltäglichen Aussagen ein Skandal gemacht. An der SPD-Basis sehen das die Mitglieder übrigens genauso.

Dann fragen wir inhaltlich: Finden Sie es richtig, dass muslimische Schüler nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht haben sollten?

Nahles Die Trennung von Jungs und Mädchen im Sportunterricht ist bei uns in Rheinland-Pfalz längst Alltag und wird ohne jede Aufregung gemacht, wenn die Schulen es sich organisatorisch leisten können und dies so wünschen. Peer Steinbrück hat nichts Neues oder Skandalisierendes gesagt, sondern lediglich praktizierten Alltag wider gegeben, und ich unterstütze ihn ausdrücklich.

Ist Klartext manchmal auch kontraproduktiv?

Nahles Nein, im Gegenteil. Peer Steinbrücks Sprache ist offen und ehrlich und eine wohltuende Alternative zu den verschwurbelten Worthülsen von Frau Merkel.

40 Prozent der SPD-Anhänger finden laut einer aktuellen Umfrage, dass es in Deutschland "eher gerecht" zugeht. Ist ihr zentrales Wahlkampfthema verfehlt?

Nahles Es gibt andere Umfragen, die besagen, dass fast 70 Prozent der Deutschen das Gefühl haben, dass sie von der wirtschaftlich guten Situation im Land nichts mitkriegen. Es gibt eine Spaltung zwischen Arm und Reich und es gibt viele Dinge, die aus dem Lot geraten sind, etwa im Niedriglohnsektor oder im Gesundheitssystem. Es gibt Menschen, die warten monatelang auf wichtige Operationen. Es gibt 1,3 Millionen Menschen, die für weniger als fünf Euro Stundenlohn arbeiten. Niemand malt ein apokalyptisches Bild, aber dass wir eine neue soziale Balance in Deutschland brauchen, ist doch unbestritten.

Gehört es zur sozialen Balance, dass Facharbeiter mit einem Einkommen von mehr als 69.000 Euro zu den Spitzenverdienern in Deutschland gehören und höher besteuert werden?

Nahles Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit, das ist die neue soziale Herausforderung. Wir wollen die Schuldenbremse einhalten und dennoch sinnvolle Investitionen in Bildung und Infrastruktur tätigen. Dazu müssen die starken Schultern mehr beitragen als die schwachen. Wer als Single weniger als 64.000 € im Jahr verdient, ist von unseren Plänen gar nicht betroffen. Wir wollen einen Spitzensteuersatz von 49 Prozent ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen eines Alleinstehenden von 100.000 Euro. Ab 70.000 Euro im Jahr sind es dann 34 Euro mehr Belastung pro Jahr, das ist zumutbar und trifft gerade einmal zehn Prozent der Steuerpflichtigen.

Schließen Sie es aus, dass ein SPD-Kanzler mit Stimmen der Linkspartei gewählt wird?

Nahles Ja, dazu hat Peer Steinbrück alles gesagt. Wir kämpfen für Rot-Grün, nichts anderes.

Würden Sie eigentlich gerne Ministerin werden?

Nahles Ich traue mir das durchaus zu, aber ich scharre nicht mit den Hufen. Ich bin da ganz entspannt, schließlich bin ich erst 42 Jahre alt (lacht).

Michael Bröcker führte das Gespräch.

(brö)
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