Interview mit SPD-Chef Gabriel "Wir müssen Finanzmärkte bändigen"
Berlin · Im Gespräch mit unserer Redaktion spricht SPD-Chef Sigmar Gabriel über Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat und die Rentendebatte in Deutschland.
Warum wollten Sie nicht Kanzler werden?
Gabriel: Weil Peer Steinbrück für die Aufgabe, die wir jetzt zu bewältigen haben, der Beste in Deutschland ist und damit natürlich auch der Beste für die SPD. Wir werden in Deutschland und Europa nicht zu einer sozialen Balance zurückfinden, wenn es uns nicht gelingt, die Finanzmärkte zu bändigen und wieder Spielregeln für die Banken und Finanzmärkte einzuführen. Dafür ist er der beste Mann.
Kann nur ein rechter Sozialdemokrat in Deutschland Kanzler werden?
Gabriel: Ich finde, das sind ziemlich folkloristische Kategorisierungen. Gemeinhin gilt jemand, der für eine höhere Besteuerung der sehr hohen Einkommen und Vermögen eintritt, als Linker. Peer Steinbrück will dadurch schon sehr lange eine gerechtere Lastenverteilung in Deutschland erreichen. Peer Steinbrück und die SPD haben den gleichen Herzschlag. Er ist ein überzeugter und vor allem ein überzeugender Sozialdemokrat, der Gott sei Dank nicht in eine der üblichen Schubladen passt.
Steinbrück hat schon vielfach Positionen vertreten, die nicht die der SPD waren. Er bezeichnete zum Beispiel die Rentengarantie als den schlimmsten Fehler seines politischen Lebens.
Gabriel: Steinbrück schreibt in seinem Buch, dass er es für einen Fehler hält, wenn die Koppelung zwischen Lohnentwicklung und Rentenentwicklung aufgegeben wird. Das haben wir in der Großen Koalition auch nicht getan, denn das was Sie "Rentengarantie" nennen, haben die Renter ja selbst bezahlt. Als die Löhne in der Finanzkrise sanken, haben wir zwar die Renten nicht sinken lassen, dafür sind sie aber auch nicht so schnell gestiegen als die Lohnentwicklung wieder besser wurde.
Und wenn die Löhne wieder sinken?
Gabriel: Dann werden wir es genauso wieder machen. Es gab in Deutschland noch nie sinkende Renten. Und immer haben das die Rentner mit geringeren Rentensteigerungen später selbst bezahlt. Rentnern ist in Deutschland noch nie etwas geschenkt worden, sondern die haben dafür immer hart gearbeitet. Dafür soll man sie bitte auch anständig behandeln.
Wie kann die Partei einen Kanzlerkandidaten akzeptieren, der sein Leben lang der Funktionärsebene der Partei derart kritisch gegenüberstand?
Gabriel: Seien Sie mir nicht böse: Sie reproduzieren billige Klischees. Parteien brauchen demokratische Strukturen und Menschen, die sie ausfüllen. Worum es Peer Steinbrück und übrigens auch mir ging, ist die Öffnung dieser demokratischen Strukturen zu Menschen, die sich politisch engagieren wollen. Parteien — auch die SPD — neigen zu Verkrustungen. Das macht sie nicht nur langweilig, sondern auch wenig erfolgreich. Gerade die SPD muss sich immer wieder neu zur Gesellschaft öffnen und darf sich nicht mit sich selbst zufrieden geben. Peer Steinbrücks gelegentliche Kritik an der SPD ist eher harmlos gegen das, was Andrea Nahles und ich in den letzten drei Jahren für Reformdebatten begonnen und umgesetzt haben.
Ist Steinbrück in der Frage der Rentenpolitik auf der Linie der Partei?
Gabriel: Die wichtigsten Fragen der Rentenpolitik sind Konsens in der Partei. Wir wollen denjenigen, die lange gearbeitet haben und zwischenzeitlich arbeitslos oder im Niedriglohnsektor waren, deutlich besser stellen als diejenigen, die noch nie gearbeitet haben. Deshalb wollen wir eine Solidarrente von mindestens 850 Euro für langjährige Versicherte einführen. Wir wollen auch raus aus der Debatte um ein starres Renteneintrittsalter. Das Arbeitsleben ist so differenziert, dass wir unterschiedliche Rentenzugänge brauchen. Die SPD will, dass man nach 45 Versicherungsjahren abschlagfrei in Rente gehen kann. Das ist ein wichtiges Angebot an alle Facharbeiter, Handwerker und Krankenschwestern.
Die SPD hat beschlossen, die Rente mit 67 auszusetzen, wenn nicht mindestens 50 Prozent der 60 bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Werden Sie die Rente mit 67 aussetzen, wenn Sie regieren?
Gabriel: Wenn die weiterhin öffentlich über Fachkräftemangel klagen, aber die über 60-Jährigen aus dem Betrieb drängen, dann wäre die Fortsetzung der Erhöhung des Renteneintrittsalters ja mehr als unfair. Denn in Wahrheit würden selbst die, die bis 67 arbeiten wollen, nicht mal bis 65 einen Job finden und hätten nur Rentenkürzungen hinzunehmen. Wir können den Weg nur weiter gehen, wenn mehr getan wird, um ältere Beschäftigte in den Betrieben zu halten.
Wie wollen Sie die Arbeitgeber dazu bringen?
Gabriel: Die Arbeitgeber, die sich um altersgerechte Arbeitsplätze kümmern und bei denen die Zahl derjenigen sinkt, die in Erwerbsminderung gehen, die müssen bei ihren Rentenversicherungsbeiträgen einen Bonus bekommen. Die Arbeitgeber, bei denen das nicht der Fall ist, die müssen höhere Beiträge bezahlen.
Sie fordern also eine Altenquote?
Gabriel: Nein, sondern wir nehmen die Klagen der Arbeitgeber über den Fachkräftemangel ernst und sagen: schafft endlich altersgerechte Arbeitsplätze. Die Mehrkosten sollen die zahlen, die weiterhin die Älteren entlassen, um sich Olympiamannschaften zu halten. Wir wollen es ähnlich wie bei den Berufsgenossenschaften regeln. Dort sind die Beiträge für die Betriebe, die besonders viele Kosten auslösen, höher. Ich will aber nicht, dass der Staat das Geld bekommt, sondern das sollen die Arbeitgeber bekommen, die altersgerechte Arbeitsplätze einrichten.
Bleibt es bei der vorgesehen Absenkung des Rentenniveaus?
Gabriel: Beim Rentenniveau muss man erst einmal erklären, worum es geht. Da hat Arbeitsministerin von der Leyen eine fatale Debatte ausgelöst. Sie tut so, als sei die Absenkung des Rentenniveaus zwangsläufig und die Ursache für Altersarmut. Beides ist falsch. Beim Rentenniveau geht es um das Verhältnis der Lohnentwicklung zur Rentenentwicklung. Und weil die jüngeren Generationen immer mehr Rentner mit ihren Beiträgen finanzieren müssen, sollen die Löhne etwas stärker ansteigen als die Renten. Das ist nur fair den jüngeren Generationen gegenüber. Es geht nicht um die Absenkung von Renten.
Das behauptet doch niemand.
Gabriel: Frau von der Leyen hat genau das suggeriert. Das ist ein unfassbarer Vorgang für eine für die Rente zuständige "Fach"Ministerin. Ich kann verstehen, dass es in der Union viele gibt, die sie dafür am liebsten aus dem Kabinett rausschmeißen würden, denn ihre Kollegen aus Union und FDP wissen ganz genau, welche Volksverdummung sie damit betrieben hat.
Der linke SPD-Flügel will eine Absenkung des Rentenniveaus verhindern. Was lässt sich da machen?
Gabriel: In der SPD wird eine ganz andere Debatte. Uns geht es darum, dass bei den mittleren Einkommensgruppen am Ende keine Rente stehen darf, die nach Jahrzehnten der Beitragszahlung kaum noch Abstand zur Sozialhilfe hat. Das würde die gesetzliche Rentenversicherung langfristig delegitimieren. Wir müssen also die Stellschrauben im Beschäftigungssystem und am Arbeitsmarkt so verändern, dass das Rentenniveau erst gar nicht so stark absinkt. Das betrifft vor allem die Beschäftigungsquote, den Anteil der Vollzeitbeschäftigten, die Quote der Frauenerwerbstätigkeit und die Höhe der Löhne.
Michael Bröcker und Eva Quadbeck führten das Gespräch