Analyse Der Preis des Friedens

Berlin · "Friedensdividende" war gestern, heute ist Krieg in der Ukraine: Der Finanzminister will wieder mehr Geld in die Verteidigung stecken. Die Industrie tut sich nach ständigem Schrumpfen allerdings schwer, kurzfristig umzusteuern.

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Foto: dpa/Gregor Fischer

"Natürlich", sagt der Finanzminister, müsse Deutschland in den nächsten Jahren "höhere Leistungen für Verteidigung schultern". Wolfgang Schäubles Erkenntnis ist offensichtlich plötzlich gekommen. Denn wer den Beleg in dessen eigenen Planungen sucht, findet einen anderen Ansatz: 32,8 Milliarden Euro im Jahr 2013, dann 32,4, gefolgt von 32,3 und 32,1 Milliarden im Jahr 2016.

Die zweite große Koalition seit der Wiedervereinigung vollzieht im Kleinen, was die Vorgängerregierungen immer wieder gemacht haben, wenn Sparziele wichtig wurden: Die Bundeswehr hatte mit Jawohl auf Konsolidierungsvorgaben zu reagieren. Sie wirkte ohnehin mit ihrem grundgesetzlichen Auftrag zur Landesverteidigung merkwürdig deplatziert in einem Europa, in dem Deutschland nur noch von Freunden umzingelt schien.

Am Tag der Einheit zählte Deutschland 585.000 Soldaten. Vier Jahre später legte die Regierung ein Konzept mit 335.000 Soldaten fest, zehn Jahre später reduzierte sich die Vorgabe auf 255.000 Soldaten. Inzwischen sind es noch 185.000. Schrittmacher war immer der Druck auf den Verteidigungsetat, an dem sich die "Friedensdividende" nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der deutschen Wiedervereinigung glasklar ablesen ließ: Im ersten Jahrzehnt sank der finanzielle Aufwand für die deutschen Streitkräfte von 29,4 auf 24,3 Milliarden Euro, der Anteil an den bundesstaatlichen Ausgaben sackte von über 30 auf unter 20 Prozent.

Die Zahl der Divisionen und Brigaden schmolz wie Himbeereis im Hochsommer. Wer brauchte noch eine Abschreckung? Was sollte die Truppe also mit 2125 hochmodernen "Leopard-2"-Kampfpanzern? 225 als stählerne Reserve sollten auch reichen. Und selbst die standen nicht einsatzbereit auf dem Kasernenhof. Denn mit dem "dynamischen Verfügbarkeitsmechanismus" brauchte man nur noch 70 Prozent des Geräts, um 100 Prozent der Leistungen zu garantieren — vorausgesetzt, man folgte der Annahme, dass nicht jeder Panzer überall gebraucht würde, sondern auch nacheinander zum Einsatz kommen könnte. Die Folge illustrierte kürzlich ein deutscher Manöverbeitrag, als Soldaten Besenstiele schwarz anmalten, um die fehlende Bewaffnung zu simulieren.

Dass mit jeder Sparvorgabe die Lücken immer gravierender wurden, fiel in der öffentlichen Wahrnehmung nicht weiter auf, weil die Verteidigungsminister das Wort "Priorisierung" zu ihrem wichtigsten Verbündeten machten. Wenn alle Welt nur auf die neuen Aufgaben, zunächst auf dem Balkan, dann in Afghanistan, schaut, dann hat das Publikum zunächst Verständnis, wenn noch nicht alles Gerät perfekt zu dieser neuen Herausforderung passt, und ist zufrieden, wenn es dann Jahr für Jahr besser wird. Doch in der Heimat wurde es von Jahr zu Jahr löchriger.

Während des Afghanistan-Einsatzes wurde zuweilen derart auf Kante genäht, dass die Einsatzverbände sich mit dem neuen Gerät erst am Hindukusch vertraut machen konnten, weil die Trainingsexemplare fehlten.
Einen dicken Schluck aus der Pulle gab es erst, als sich die Tricksereien im Haushalt nicht mehr verheimlichen ließen: Rot-Grün war darauf gekommen, dass sich das schöne Gefühl der Friedensdividende im Verteidigungshaushalt erhalten ließe, wenn man den von der gesamten Regierung gewollten Afghanistan-Einsatz auch in die "allgemeine Finanzverwaltung" steckte. Erst als daraus auch die Übungsflüge der Luftwaffe in Kanada abgerechnet wurden, weil diese sich damit ja auch auf Afghanistan vorbereite, war die Zeit gekommen, sich mit einer Zusatz-Milliarde für die Truppe wieder ehrlich zu machen.

Doch die Versuchung, bei jeder Gelegenheit den Verteidigungshaushalt schrumpfen zu können, gehört auch unter Schwarz-Rot zum Allgemeingut. So begründete das Finanzministerium die 400-Millionen-Kürzung Anfang 2014 damit, dass ja am Ende des Jahres der Kampfeinsatz in Afghanistan beendet werde.

Doch der Krieg im Osten der Ukraine, dessen Verlauf entscheidend von der Verfügbarkeit modernen Kriegsgeräts und geschulten Militärpersonals abhängt, hat auch die deutschen Politiker zu einem Umdenken gebracht. Wir scheinen eben nicht mehr nur von Freunden umzingelt zu sein, sondern es mit einer russischen Aggression zu tun zu haben, die mit ihrem Waffenarsenal Druck Richtung Westen ausübt — und damit auch Fakten schafft, wie die Annexion der Krim belegt.

Die Rüstungsindustrie hat sich jedoch auf die sinkenden Investitionen eingestellt und Tausende von Arbeitsplätzen abgebaut. Sie guckte sich das "Priorisieren" ab und setzte mehr auf zivile Aufträge. Auch das ist ein Grund dafür, dass es bei Großprojekten wie Transportflugzeugen, Kampfjets oder neuen Panzern immer wieder knirscht und sich die Verteidigungsminister mit den Konzernen jahrelange Auseinandersetzungen um Nachbesserungen liefern. Die Industrie könnte neue Aufträge wohl kaum im Handumdrehen realisieren.

Schäuble will deshalb nicht schon für 2015 oder 2016 umsteuern, sondern für die Zeit ab 2017. Aber auch das ist in der Koalition noch nicht beschlossene Sache. SPD-Vize Ralf Stegner: "Wir brauchen in Deutschland und Europa vor allem mehr Mittel für Bildung und Infrastruktur." Wenn Schäuble die von ihm so gepriesene schwarze Null jetzt für Aufrüstung aufgeben wolle, sei das "die falsche Priorität". Und auch der Chef der NRW-SPD im Bundestag, Axel Schäfer, stellt Bedingungen: "Wenn wir mehr Geld ausgeben, dann muss es auch zusätzliche Investitionen in die Kommunen geben", stellt er klar — und deutet für diesen Fall ein Ja an: "Wer mehr internationale Verantwortung übernehmen muss, darf mehr Mittel für die Bundeswehr nicht ausschließen."

(may-)
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