Ständehaus-Treff mit Wolfgang Schäuble "Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen"

Düsseldorf · Der Bundesfinanzminister warnt beim Ständehaus-Treff in Düsseldorf vor dem Zerfall der EU in der Flüchtlingskrise - und stärkt Merkel den Rücken.

Wolfgang Schäuble beim Ständehaus-Treff
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Foto: Endermann

Wenn Wolfgang Schäuble Gast auf dem Podium ist, sind die Eintrittskarten heiß begehrt. Über 500 Gäste sind zum traditionellen Ständehaus-Treff in Düsseldorf gekommen, um zu hören, was der dienstälteste Bundesminister zur Lösung der Flüchtlingskrise zu sagen hat. In seiner über 40-jährigen Politikerkarriere hat er kein Thema erlebt, das die Gesellschaft so aufwühlt. Das Projekt der europäischen Integration könnte auf dem Spiel stehen, Schäubles politisches Lebensthema.

Es ist das vierte Mal seit 2001, 2007 und 2010, dass Schäuble nach Düsseldorf kommt, um sich vor dem Publikum im ehemaligen Düsseldorfer Landtagsgebäude den Fragen des RP-Chefredakteurs zu stellen. Michael Bröcker konzentriert sich dabei ganz auf das große Thema Flüchtlinge, das Schäubles Parteifreund Elmar Brok ein "Jahrhundertproblem" genannt hat.

"Wir haben vielleicht bisher die Realität der Globalisierung in Teilen unterschätzt", sagt Schäuble. Jetzt treffe die Globalisierung Deutschland unmittelbarer, als viele erwartet hatten. Es gebe "keine Patentantworten" auf diese Krise. Deutschland werde sich im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika deutlich stärker engagieren müssen, um diese Länder zu stabilisieren.

Natürlich will Bröcker wissen, ob die Entscheidung Merkels, Anfang September die deutschen Grenzen für die Flüchtlinge zu öffnen, richtig gewesen sei. Schäuble sagt, Merkel habe ja gar keine andere Wahl gehabt. Die Menschen wären sowieso gekommen. Doch Deutschlands Leistungsfähigkeit sei begrenzt. "Zu Unmöglichem kann man nicht verpflichtet werden", sagt Schäuble. "Jeder sieht ein, dass wir nicht die ganze Welt bei uns aufnehmen können." Deutschland tue, was es könne. Die Bundesregierung müsse versuchen, den Zustrom zu stoppen. Das werde Geld kosten, und es werde an die Bundeswehr zusätzliche Herausforderungen stellen.

Drei Milliarden Euro soll die EU der Türkei dafür bezahlen, dass sie die Flüchtlinge daran hindert, nach Europa zu kommen, es können noch mehr werden. Er lasse sich auch nicht von Italien erpressen, das seinen Anteil bisher nicht bezahlen will. Zudem müsse die Staatengemeinschaft Milliarden für die UN-Flüchtlingslager im Libanon und Jordanien bezahlen, sagt Schäuble. Das wolle Europa "doch nicht Donald Trump überlassen", scherzt er. "Wir brauchen schnell Lösungen", sagt der Minister. Deshalb müsse notfalls ein Teil der EU-Staaten vorangehen, andere könnten dann folgen.

Die Schwarze Null ist nicht mehr sakrosankt

50 Milliarden Euro werde allein die Versorgung der Flüchtlinge 2016 und 2017 im Inland kosten, haben Wirtschaftsforscher ausgerechnet. Auch Schäuble macht sich keine Illusionen. Die schwarze Null in seinem Haushalt zu halten, ist für ihn längst nicht mehr sakrosankt. Schäuble bereitet die Bürger schon jetzt auf ein Defizit vor. Am Geld dürfe die EU-Grenzsicherung nicht scheitern, sagt der Minister. Unlängst hatte er zur Finanzierung eine europaweite Benzin-Sonderabgabe vorgeschlagen. Merkel hatte seinen Vorstoß sofort strikt zurückgewiesen. Er musste das wissen. Dass er sich trotzdem nach vorn wagte, interpretierten viele als ein Foul Schäubles an der Kanzlerin.

Über seine Loyalität zu Merkel wird viel spekuliert. Käme es wirklich zum Sturz der Kanzlerin, stünde Schäuble wohl bereit. Ob er aus Loyalität oder aus innerer Überzeugung den Flüchtlingskurs der Kanzlerin stütze, wurde er unlängst gefragt. Schäuble antwortete, das dürfe man einen intelligenten Menschen nicht fragen, es sei beides. "Nichts ist ewig auf dieser Welt", sagt Schäuble auf die Frage, ob Merkel ewig Kanzlerin bleiben werde. Aber: "Ich kenne keinen, der seine Popularitätswerte nicht mit denen der Kanzlerin heute tauschen würde." Renzi, Hollande, Tsipras - niemand in Europa komme an Merkel heran, alle wünschten sich ihre Beliebtheitswerte.

Allerdings sei es "unübersehbar", dass Merkel stärker unter Druck stehe als noch vor acht Monaten. In Deutschland gebe es "im Augenblick ein wachsendes Zweifeln in einem Teil der Bevölkerung, ob die staatlichen Institutionen dies bewältigen", sagte Schäuble mit Blick auf die Flüchtlingskrise. Dies könne sich auch bei den anstehenden Landtagswahlen zeigen — dort könnten mehr Parteien eine Rolle spielen: "Ich erwarte eine stärkere Diversifizierung." Dies sei besorgniserregend, doch müsse man in der Politik auch "Gegenwind aushalten".

"Politik", sagt Schäuble am Ende, "ist eine Tätigkeit, die packt Sie mit Haut und Haaren". Wenn er keine Freude mehr daran hätte, "müsste ich längst aufgehört haben". Sein Schicksal, nach dem Attentat im Oktober 1990 als Querschnittsgelähmter an den Rollstuhl gefesselt zu sein, habe er angenommen. Aber wenn er nachts träume, sehe er sich selbst nicht im Rollstuhl. "Eigentlich sind alle behindert. Aber wir Behinderte wissen es wenigstens", scherzt er.

Ungewohnt offen erzählt Schäuble von den Tagen, die sein Leben veränderten. Schäuble überlebte das Attentat 1990 nur knapp. Gerade einmal sechs Wochen später gibt der CDU-Politiker in der Klinik in der Nähe von Karlsruhe eine Pressekonferenz. "Es war auch ein Test, ob ich den Auftritt in der Öffentlichkeit schaffe", sagt er heute. Über den Täter denke er nicht mehr nach. Den Vater des Mannes, einen örtlichen Bürgermeister, habe Schäuble viele Jahre nach dem Attentat getroffen, berichtet er. "Damit müssen wir beide jetzt leben", sagte Schäuble zu dem Mann.

Schäuble gibt beim Ständehaus-Treff auch eine bislang unbekannte Einzelheit im Zusammenhang mit dem Attentat auf ihn preis. Als Kanzleramtsminister habe er sich Jahre vor dem Attentat persönlich dafür eingesetzt, dass der spätere Attentäter Dieter Kaufmann von einem ausländischen Gefängnis nach Stammheim in Deutschland verlegt wurde. "Vergolten hat er mir´s nicht so recht", sagt Schäuble. Er habe damals die Familie des drogenkranken Mannes gekannt, seine Mutter habe ihn um die Verlegung ihres Sohnes gebeten. Kaufmann hatte wenig später auf Schäuble im Oktober 1990 geschossen.

Einer von seinem Bruder kolportierten Anekdote muss Schäuble ausdrücklich widersprechen: Als Kind soll er einmal seinen Fußball geschnappt haben und den Platz verlassen haben, weil er nicht verlieren konnte, lautete die Geschichte. Die Wahrheit sei eine andere, sagt Schäuble: Er habe einen Ball geschenkt bekommen - und die anderen Kinder hätten ihn genommen und ohne ihn spielen wollen. Da habe er sich seinen Ball geschnappt. "Was hätten Sie denn gemacht?"

Milde zeigt Schäuble auch mit seinem ewigen Widersacher Helmut Kohl. "Ich wünsche ihm noch ein friedliches Leben." Eine Aussöhnung ist dennoch nicht vorstellbar. Wenn er zu Kohl gehen würde und sagte "Ich verzeihe dir", würde sich Kohl wahrscheinlich aufregen und erklären, er habe ihm gar nicht zu verzeihen. "Das wäre nur ein neuer Streit", sagt Schäuble. "Das muss nicht sein."

(mar)
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