Analyse Die Angst vor der Cyberbombe

Berlin · Nicht erst mit dem "Internet der Dinge", den vernetzten Produkten, wächst die Gefahr von Cyberangriffen. Schon jetzt verzeichnen allein deutsche Firmen 60 Millionen Attacken pro Monat. Und es wird noch viel schlimmer.

Wenn einer wie der Thriller-Autor Karl Olsberg "erschrocken" ist, dass seine erfundenen Katastrophen-Szenarien "von der Wirklichkeit längst überholt" worden sind, dann sollte das der allerletzte Anstoß sein, noch genauer hinzuschauen. Nicht von ungefähr versicherte sich Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen der Unterstützung durch den Schriftsteller bei der jüngsten Cybersicherheits-Tagung: Es war der Versuch des obersten Verfassungsschützers, der Öffentlichkeit noch deutlicher vor Augen zu führen, welche Dimensionen die Bedrohung aus dem Netz bereits angenommen hat.

Dabei bekennt Olsberg für sich selbst auch die Verführbarkeit durch die schöne neue Bequemlichkeit: Das Navi führt ihn sicher durch fremde Städte, mit einem simplen Ruf "Alexa, Nachrichten!" bekommt er morgens von Amazons kleinem Sprachcomputer seine Wünsche erfüllt, selbstlernende Systeme stellen sich mit ihrem Service immer besser auf seine Bedürfnisse ein.

Diese Wirklichkeit scheint weit entfernt zu sein von den klassischen Untergangsszenarien, in denen tapfere Menschen dagegen ankämpfen, dass Maschinen die Macht übernehmen. Olsberg sieht die Gefahr inzwischen gänzlich anders. Die Maschinen seien nicht das Problem, sondern "wir als Nutzer, die den Maschinen zu sehr vertrauen". Und die Frage, wie naiv er denn sei, wenn er Alexa rund um die Uhr seine Gespräche kontrollieren lasse, kontert er süffisant mit dem Hinweis, jedes Smartphone liefere doch noch viel mehr Möglichkeiten zur Überwachung von Sprache, Gewohnheiten, Bewegungsprofilen, Einkaufsverhalten.

Die Erkenntnis des auch als Internet-Unternehmers tätigen Schriftstellers: "Twitter, Facebook, Amazon und Google sind längst die Navigationssysteme für unser Leben." Da sei die künstliche Intelligenz Wirklichkeit, die natürlich auch den Ausgang von Wahlen beeinflussen könne.

Aber die Tücke der Vernetzung liegt nicht allein in der Manipulation. Sie birgt auch neue Chancen für Verbrecher. So verweist Maaßen auf die Möglichkeit, dass kriminelle Hacker die Kontrolle über selbstfahrende Autos übernehmen. Oder über Herzschrittmacher, die mit dem Netz verbunden sind. Das sei ein neues, möglicherweise immens lukratives Betätigungsfeld für Erpresser. Oder für Mörder? Aber so weit geht Maaßen nicht.

Ihm reichen fürs Kopfzerbrechen schon die Erkenntnisse seiner Behörde nach der Auswertung des mutmaßlich aus Russland geführten Cyberangriffs, mit dem vor zwei Jahren ein ukrainisches Kraftwerk lahmgelegt wurde. Denn die Ukraine war bei dieser Attacke nicht das einzige Ziel. Auch "viele, viele IP-Adressen in Deutschland" seien angegriffen worden - möglicherweise, um hier eine Cyberbombe zu platzieren, die hochgehen könne, wenn es politisch opportun erscheine.

Maaßen sieht die deutsche Wirtschaft unter erheblichem Veränderungsdruck: Wer sich nicht digitalisiert, droht den Anschluss zu verlieren. Der Industrie 4.0 mit ihrem "Internet der Dinge", also online verknüpften Produkten, gehört der Markt der Zukunft. Damit beträten die Unternehmen jedoch zugleich einen "Hochsicherheitsraum", über den sie auch attackiert werden könnten.

Die Schätzungen liefern monströse Zahlen: Schon jetzt soll allein der deutschen Wirtschaft ein jährlicher Schaden von 50 Milliarden Euro durch Cyberattacken entstehen. Volker Wagner, Chef der Allianz für die Sicherheit der Wirtschaft, beziffert die Zahl der täglich (!) entstehenden neuen Schadprogrammvarianten auf 400.000. Pro Monat seien die deutschen Firmen Opfer von 60 Millionen Angriffen.

Und diese werden, so Maaßen, immer intelligenter, machen sich den Umstand zunutze, dass Unternehmen erst mit großer zeitlicher Verspätung überhaupt merken, dass Fremde auf ihren angeblich gesicherten Computern waren. Es gebe bereits Trojaner, die sich nach erfolgreichem Datendiebstahl selbst zerstören, um jede Spur zu verwischen. Dann wundere sich das Unternehmen, dass ein nahezu identisches Produkt von der Konkurrenz angeboten werde, könne aber nicht mehr ermitteln, ob die Innovation verraten, durch Spionage gestohlen oder übers Netz abgesogen wurde.

Wagner ruft deshalb die Unternehmen dazu auf, nicht nur Sicherheitsbeauftragte in jedem Betrieb zu installieren und die Mitarbeiter intensiv zu schulen, sondern auch mehr Mittel für die Erkennung erfolgreicher Attacken und deren Bekämpfung bereitzustellen. Mit dem besseren Schutz der Entwicklungsphase wächst freilich das Risiko, dass neue Produkte später auf den Markt kommen und wegen des erhöhten Aufwandes auch teurer werden. Maaßen wirbt für ein neues Verbraucherverhalten: Die Sicherheit müsse zum Faktor der Kaufentscheidung werden und die Bereitschaft steigern, dafür auch mehr Geld auszugeben.

Die Sicherheit hält schon seit Langem nicht mehr Schritt mit den Neuentwicklungen. Das Beispiel jenes Computers, der auf das Lernen des komplexen, auch von Gefühlsentscheidungen gesteuerten Go-Spiels programmiert wurde, spricht Bände. Er konnte durch Millionen simulierter Spiele gegen sich selbst neue Strategien erproben, und sich mit ihrer Hilfe dann im Wettkampf gegen den Menschen durchsetzen - mit Spielzügen, die sich die Programmierer nicht mehr erklären konnten.

Viele neue Geschäftsmodelle verbreitern die Zugriffsmöglichkeiten für nützliche wie kriminelle Algorithmen: vom Umweltmonitoring über das Infrastrukturmanagement bis zur Gesundheitsüberwachung. Die schöne neue Welt steckt voller potenzieller Viren. Und der nötige Impfstoff ist bisher nur Fantasie.

(RP)
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