Die beste schlechte Staatsform

Demokratie ist umständlich, stimmungsanfällig, korruptionsgefährdet. Ihre Verachtung hat in Europa lange Tradition.

Mehr als zwei Drittel seines gut neunzigjährigen Lebens war Winston Churchill Unterhausabgeordneter. Er bekleidete elf verschiedene Regierungsämter, drei je zweimal. Und das alles im Mutterland des Parlamentarismus: Großbritannien. Der Mann muss von Demokratie etwas verstanden haben. 1947 sagte dieser Churchill den Satz: "Man hat gesagt, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform - abgesehen von all den anderen, die dann und wann ausprobiert worden sind."

Den ersten Teil, ohne die folgende Aufhebung, hätten in Europa in den vergangenen 2500 Jahren viele unterschrieben. Demokratie galt lange als anrüchig, verabscheuungswürdig, und zwar von Anbeginn der politischen Philosophie. Für Platon ist die Demokratie die zweitschlechteste Staatsform, liederlich und zügellos, besser nur als die Tyrannei. Aristoteles sortiert die reine Demokratie unter die entarteten, dem Eigennutz dienenden Staatsformen - wenn alle Freien regieren, sei das Willkür.

Die antike Skepsis wirkt lange nach. Dass demokratische Elemente allenfalls in einer aristokratisch-monarchischen Mischverfassung vertretbar seien, schreibt noch 1513 Niccolò Machiavelli. In der katholischen Kirche ist kurz zuvor der Anspruch der Konzilien auf die höchste Lehrgewalt am absoluten Machtwillen der Päpste gescheitert.

Das demokratische Fundament der europäischen Moderne wird nicht am Mittelmeer gelegt, sondern an Themse und Seine. In England wächst ab dem 13. Jahrhundert ein Parlament heran; die Französische Revolution beweist, wie unwiderstehlich die aufklärerische Allianz aus Volkssouveränität und Nationalismus ist. Der Sieg der demokratischen Staaten im Ersten Weltkrieg schließlich führt die Demokratie in ihre tiefste Krise: Die Nachkriegsordnung ist zwar frei von den alten reaktionären Monarchien, aber in weiten Teilen chaotisch.

In diesem Klima gedeiht Demokratieverachtung prächtig. "Selbstbestimmungsrecht des Volkes ist eine höfliche Redensart; tatsächlich hat mit jedem allgemeinen Wahlrecht sehr bald der ursprüngliche Sinn des Wählens aufgehört", schreibt 1922 Oswald Spengler im "Untergang des Abendlandes". Die Weimarer Republik, entstanden "an der Schwelle der absteigenden Demokratie", sei eine "Diktatur der Parteimaschinen" - das hätten auch die Nazis so sagen können. Für Joseph Goebbels ist Demokratie eine "getarnte Plutokratie", also (jüdisch beeinflusste) Geldherrschaft. Seit 1945 erst, nach dem Holocaust, wollen alle Demokraten sein - auch die Kommunisten, die keine sind, aber ihre Staaten demokratisch nennen und den absurden Begriff der Volksdemokratie erfinden.

Churchills Satz trifft aber noch in einem tieferen Sinn zu. Um festzustellen, dass die Staatsform Demokratie ihre Probleme hat, muss man kein Monarchist oder Neonazi sein; Politikwissenschaftler genügt völlig. Demokratien bilden eher schwerfällige Regierungssysteme aus, die auf Kompromissen beruhen und daher wendigen Despoten zumindest kurzfristig unterlegen sein können. Die Europäer müssen für eine Bestätigung nur in die Ukraine und auf die Krim schauen.

Zugleich sind Demokratien anfällig für kurzfristige Stimmungswechsel, eben weil alle am politischen Prozess mitwirken dürfen. Deutschland hat einen solchen Umschwung mit all seinen Verwerfungen gerade in der Flüchtlingskrise erlebt.

Demokratien sind anfällig für Lobbyismus und Korruption, weil die Aufgaben der Gesetzgebung auf viele verteilt sind - gewählte Mandatsträger, die eben "Universaldilettanten" sind, wie es Sigmar Gabriel einmal ausdrückte. Man hat ihn für das Wort verspottet, aber es beschreibt im Kern das Wesen einer repräsentativen Demokratie. Wir sind kein Technokratenstaat und kein Philosophenkönigtum.

Die Demokratie hat auch das Problem der Repräsentation nicht endgültig gelöst. Wie übersetzen sich Wählerstimmen in Mandate? Seit ihrer Einführung sind die Sperrklauseln in der Bundesrepublik umstritten, die eine Zersplitterung der Parlamente verhindern sollen. Weder Verhältnis- noch Mehrheitswahl bilden das Wahlergebnis perfekt ab; die Verzerrungen sind teils massiv. In den USA ist gerade ein Mann zum Präsidenten gewählt worden, der 2,5 Millionen Stimmen weniger erhalten hat als seine Konkurrentin.

Demokratie ist eine fürchterlich anstrengende, komplizierte, umständliche, anfällige Staatsform. Niemals gab es eine bessere.

(fvo)
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