Analyse Die britische Distanz zum "Kontinent"

Düsseldorf · Großbritannien sah sich in Europa lange nicht als Mitspieler, sondern als Schiedsrichter. Diese Rolle hat es verloren, aber die Skepsis gegenüber dem komplizierten Hickhack auf dem Kontinent ist geblieben.

Kaum ins Amt gewählt, musste der britische Premier sein wichtigstes Wahlversprechen einlösen: in Brüssel die Konditionen der britischen EU-Mitgliedschaft neu verhandeln und das Ergebnis dann dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Das Referendum fand statt, und es fiel eindeutig aus. Mehr als zwei Drittel der Briten stimmten für den Verbleib in der EU.

Dies ist mitnichten politische Science Fiction, es ist 40 Jahre her. Der Premier hieß nicht David Cameron, und er war auch kein Konservativer. Es handelte sich um Harold Wilson, Chef der Labour-Partei. Die Volksabstimmung fand am 5. Juni 1975 statt, nur knapp anderthalb Jahre, nachdem Großbritannien der damaligen EG beigetreten war. Wilson zeigte sich am Abend der Abstimmung enorm erleichtert. "14 Jahre nationaler Debatte sind vorüber", jubelte er, der Streit um Europa sei damit endlich abgehakt. Wie man sich täuschen kann: Die nächste britische Volksabstimmung über die EU steht bevor, sie könnte sogar schon im kommenden Jahr stattfinden.

"Europa", das ist für die Briten der Kontinent, zu dem sie auf ihrer Insel über Jahrhunderte vorsichtige Distanz hielten. Mit der Geografie hat das freilich nichts zu tun. Noch im Mittelalter war England auch eine Kontinentalmacht. Heinrich II. zählte im 12. Jahrhundert mehr Untertanen im heutigen Frankreich als in England, und noch Heinrich VI. wurde 1429 zuerst in London als König von England und dann 1431 in Paris als König von Frankreich gekrönt. Aber irgendwann war es vorbei mit den englischen Besitzungen auf der anderen Seite des Ärmelkanals, und die Insellage wurde allmählich mystisch überhöht, ja sie wurde zur Grundlage einer ganz eigenen Form des britischen Patriotismus. Britannia beherrschte die Ozeane, mochten andere sich in kontinentale Händel verstricken.

In der spätviktorianischen Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als das britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung stand, gehörte es endgültig zur Staatsräson, in Europa abseits zu stehen. In dieser Zeit wurde das Wort von der "splendid isolation" geprägt, der "wunderbaren Isolation". Während auf dem Kontinent Deutschland und Frankreich um die Vorherrschaft rangen, sahen die britischen Diplomaten ihre Aufgabe darin, die Machtbalance zu wahren, die "balance of power". Keine kontinentale Macht sollte zum europäischen Hegemon aufsteigen. Nur wenn solches drohte, ging London Bündnisse oder informelle Allianzen ein. Alle waren nur Mittel zum Zweck und wurden ebenso schnell aufgekündigt wie eingegangen.

Auf der Insel sah man sich nicht als Mitspieler in Europa, eher als Schiedsrichter. Und das blieb auch so, als Britanniens traditionelle Rolle in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs begraben wurde und das Empire allmählich zerbröselte. 1930 unterstrich Winston Churchill in einer amerikanischen Zeitschrift weiter das alte Selbstverständnis: "Wir haben unseren eigenen Traum und unsere eigene Aufgabe. Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu. Wir sind verbunden, aber nicht umfasst. Wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht absorbiert." Natürlich ging es Churchill mit dieser Distanzierung auch darum, die privilegierte Beziehung zu den USA zu pflegen. Aber noch 1951, als er erstmals Konrad Adenauer traf und mit dem Schuman-Plan bereits eine Blaupause für die supranationale Integration Europas auf dem Tisch lag, mochte er dem deutschen Gast nur gnädig zusichern, Großbritannien werde "immer an der Seite Europas stehen".

Die mit einem Hauch Arroganz gepuderte feine Zurückhaltung bröckelte aber, als Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder 1957 in den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gründeten. Es dauerte nicht lange, bis man in London die ökonomischen Vorteile erkannte, die die EWG bot. 1961 reichte London gemeinsam mit Irland und Dänemark einen Aufnahmeantrag ein. Anderthalb Jahre wurde eifrig über die Beitrittsbedingungen verhandelt. Dann ließ Charles de Gaulle das Beil der Guillotine fallen. Ein Beitritt Großbritanniens, so erklärte der französische Staatspräsident, würde das weitgehend homogene Europa der Sechs zu sehr verbiegen. Die Briten hätten nun einmal "sehr eigenwillige Gewohnheiten und Traditionen", erklärte der General Mitte Januar 1963. Eine Woche später schloss er mit Adenauer den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, der die Statik der EU bis heute heimlich bestimmt. Die Briten waren draußen.

Sie sind es bis heute geblieben, auch wenn es das Königreich dann doch noch in die EG schaffte. Dann aber beschlossen die sechs Gründungsmitglieder eine noch viel weitergehende Integration. Aus der EG wurde die EU und damit sicherlich mehr, als es sich selbst europabegeisterte Briten beim Beitritt ihres Landes 1973 hatten vorstellen können. Nicht umsonst wird Großbritannien seither in der EU als Bremser wahrgenommen. Dass Premierministerin Margaret Thatcher Brüssel den Briten-Rabatt abpresste, gehört dabei noch zu den Harmlosigkeiten. Entscheidender sind die "opt outs", die ihr Nachfolger John Major in Maastricht durchsetzte. Großbritannien machte nach dem Schengen-Raum auch beim nächsten großen Integrationsschritt nicht mehr mit: dem Euro.

Allerdings: Die Kritik an zu viel europäischem Bürokratismus und Zentralismus sowie dem Mangel an demokratischer Kontrolle zeigt ein Unbehagen, das längst kein rein britisches Phänomen mehr ist. Auch bei uns auf dem Kontinent hat die Lust auf eine "immer engere Union zwischen den Völkern Europas", wie sie die Römischen Verträge noch voller Überschwang forderten, spürbar nachgelassen. Wir sind vorsichtiger geworden. Skeptischer. Man könnte auch sagen: britischer.

(RP)
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