Analyse Die Fehler der Volksparteien

Berlin · Union und SPD haben mit sinkenden Umfragewerten zu kämpfen. Eine Krise des politischen Systems ist zwar nicht in Sicht. Aber die etablierten Parteien können nicht weitermachen wie bisher.

Analyse: Die Fehler der Volksparteien
Foto: Weber

Die große Koalition in Berlin schrumpft aktuell von Umfrage zu Umfrage. Union und SPD verfügen im Bundestag zusammen über 503 der 630 Mandate. Das entspricht fast einer Vier-Fünftel-Mehrheit. Das war die Welt von 2013. Damals hätten die Volksparteien eine "Renaissance" erlebt, sagt der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte. Union und SPD konnten im Vergleich zu den vorhergehenden Wahlen zulegen. Doch seit einem Jahr wenden sich immer mehr Wähler von den großen Volksparteien ab.

Dass in Zeiten einer großen Koalition die Volksparteien Federn lassen müssen, während kleine, insbesondere radikale Parteien profitieren, ist eine Binsenweisheit. Auch die nicht mehr vorhandenen politischen Milieus sind Teil der Erklärung, warum die Volkspartei in der Demokratie kein Selbstläufer mehr ist. Doch das Formtief von Union und SPD ist auch ein hausgemachtes Problem.

Die über viele Jahre erfolgreiche Strategie der Volksparteien, sich die politische Ruhe als oberste Pflicht aufzuerlegen, erweist sich nun als Bumerang. Die Merkel-CDU hat diese Strategie geradezu perfektioniert. Ihre Parteistrategen setzten mehrfach auf die sogenannte asymmetrische Demobilisierung. Das bedeutet, dass man dem möglichen politischen Gegner so wenig Angriffsfläche bot, dass dessen mögliche Wähler auch nicht motiviert werden konnten. Diese Strategie gipfelte in Merkels Satz im Wahlkampf 2013: "Sie kennen mich." Das reichte aus, um das Vertrauen vieler Wähler zu bekommen.

Doch Merkel hat in der Flüchtlingskrise ihren Nimbus verloren. Autorität hat sie immer noch. Aber ein "Sie kennen mich" wird auch ihr im nächsten Wahlkampf 2017 nicht mehr reichen.

Mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten hat sich auch die Debattenkultur in Deutschland verändert. Über Politik wird wieder mehr und emotionaler gestritten. Bei den vergangenen Landtagswahlen konnte man eine steigende Wahlbeteiligung beobachten. Es geht wieder um etwas: AfD wählen oder AfD verhindern? Flüchtlinge begrüßen und integrieren oder Grenzzäune hochziehen? Den Islam in Deutschland anerkennen oder ihn bekämpfen?

Aus Sicht von SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel eignet sich aber gerade die Flüchtlingspolitik nicht zum öffentlichen Schlagabtausch. Ein solcher Streit spült aus seiner Sicht nur Wasser auf die Mühlen der Rechten. Mehr politische Debatte hält er vielmehr auf anderen Themenfeldern für notwendig. "In den vergangenen Jahren sind wichtige wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Fragen in den Hintergrund geraten", sagt der SPD-Mann. Die großen Volksparteien seien nicht mehr konturiert genug. "Wir müssen mutiger, klarer und unterscheidbarer werden. Wenn die politische Mitte zu leise ist, stärkt das nur die Radikalen an den Rändern."

Politikwissenschaftler Korte sieht dennoch keinen Grund zum Alarmismus. Im Gegenteil -den Verschiebungen im Parteiensystem kann er auch Positives abgewinnen: "Das zeigt, dass unser Parteiensystem lebendig, belastbar und dynamisch ist." Neue Themen und neue Konflikte hätten die Chance, zu einer neuen Partei zu werden, sagt Korte. In der Flüchtlingskrise sei im Parlament niemand gegen den Zuzug von Flüchtlingen gewesen, davon habe die AfD profitiert.

Was für Politikwissenschaftler Korte ein Beweis der politischen Lebendigkeit ist, sehen im Berliner Regierungsviertel viele Abgeordnete nicht nur als existenzielle Bedrohung für ihre persönliche Karriere. Sie fürchten auch tektonische Verschiebungen in der Parteienlandschaft, die sich nicht mehr umkehren lassen.

Die europäischen Nachbarländer sind abschreckende Beispiele: In Österreich erreichen die beiden einst großen Volksparteien aktuell in Umfragen keine einfache Mehrheit mehr. Der nächste österreichische Bundespräsident wird nach bisherigen Prognosen von der rechtspopulistischen FPÖ gestellt werden. In Frankreich konnte ein Siegeszug des Front National bei den Regionalwahlen im vergangenen Jahr nur knapp verhindert werden.

Im Vergleich dazu ist Deutschland mit deutlich über 30 Prozent für die Union und mehr als 20 Prozent für die SPD eine Insel der Stabilität. Zumal auch die Grünen und die Linken im Osten staatstragende Parteien sind.

Die europäischen Rechtspopulisten eint, dass sie die etablierten Parteien als Machtelite darstellen, von der sie das Volk befreien wollen: Ihr da oben, wir da unten. Sie liefern einfache Antworten in einer immer komplexer werdenden Welt und nutzen fremdenfeindliche Ressentiments.

Für die etablierten Parteien, die bei den Anhängern der Rechtspopulisten ohnehin ein Glaubwürdigkeitsdefizit haben, gibt es kein Patentrezept, AfD und Co. zu entzaubern. Union und SPD schwanken in ihrer Strategie dazwischen, die Themen der AfD seriös aufzugreifen und die Rechtspopulisten rhetorisch hart anzugehen, wie CDU-Parteivize Thomas Strobl. Der sagt: "Die AfD radikalisiert sich immer weiter." Er setzt darauf, dass es für die AfD zunehmend schwierig werde, "ihr Deckmäntelchen, die Tarnung einer Partei mit bürgerlichem Gestus", aufrechtzuhalten. "In Teilen trägt die AfD eine radikale, extremistische Denke in sich - und die lässt sich nicht verstecken." Strobl kündigte an, die CDU werde die AfD stellen.

(qua)
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