Gesellschaftskunde Die heuchlerischen Appelle, endlich auszumisten

Viele Ratgeber empfehlen Menschen, sich von allerhand Gewohntem zu trennen. Doch Freiräume halten manche Menschen gar nicht aus – und befüllen sie schnell wieder.

Gesellschaftskunde: Die heuchlerischen Appelle, endlich auszumisten
Foto: Krings

Viele Ratgeber empfehlen Menschen, sich von allerhand Gewohntem zu trennen. Doch Freiräume halten manche Menschen gar nicht aus — und befüllen sie schnell wieder.

Abwerfen, was einen belastet. Das klingt so verführerisch: nach Befreiung, Ausmisten, neuem Anfang. Und tatsächlich kann Aufräumen, Aussortieren, Verschenken ja eine Wohltat sein. Man übt, sich zu trennen, lässt hinter sich, was ohnehin nur Ballast war, schafft Platz, Freiraum, Freiheit.

Doch oft sind diese Empfehlungen gar nicht als Appell zum Weniger gemeint, als Aufruf, es mit ein wenig Leerraum im Leben zu versuchen und zu schauen, welche Resonanzen sich darin einstellen. Vielmehr kurbeln die Ausmistungsaufrufe den Konsum an. Neuer Trend, neuer Look, neues Sofa. Das Aussortieren ist dann nur das Vorspiel zur eigentlichen Befriedigung: zum Neukauf, der Veränderung an der Oberfläche durch Konsum.

Es ist ja auffällig, dass gerade Lebensstil-Zeitschriften häufig über die Wonnen des Ausmistens berichten. Da erzählen dann Experten aus dem Alltag, wie sie sich radikal von Einrichtungskram, alten Klamotten, dem früheren Job — oder auch mal von einem Lebenspartner getrennt haben. Plastisch wird beschrieben, wie existenziell befreiend das war — und wie die Trennungskünstler die Lücken schnell wieder gefüllt haben.

Denn in Wahrheit sind der Verlust, der Freiraum, die Leere für viele Menschen schwer auszuhalten. Sie müssten erst entdecken, wie sich durch materielle Entschlackung immaterielle Bereicherung einstellen kann. Doch dazu kommt es oft nicht, weil die Dinge sich den Raum zurückerobern. Auch gedankliche Befreiung ist oft nur von kurzer Dauer. Da wird mal ein Entspannungs- oder Meditationskurs belegt, doch bald ist man zurück im alten Gefüge, kreisen die Gedanken wieder auf den alten Bahnen um Dinge, die man mit ein wenig Abstand gar nicht mehr wichtig fand.

Umzuschalten ist so schwer, weil weniger zu besitzen, zu unternehmen, zu wollen, nicht der Logik unserer Zeit entspricht. Der Einzelne, der scheitert, ist also kein schwacher Mensch. Er wird nur wieder gefangen von den Kräften, die das Mehr predigen, Gelüste wecken, Druck erhöhen. Man entkommt dieser Logik am leichtesten, wenn man Menschen begegnet, die die alte Weisheit vom "Weniger ist mehr" schon leben — nicht als Verzicht, sondern als andere Fülle. Man kann bei solchen Menschen erfahren, dass man sein Leben am besten nicht durch große Schritte und innerlichen Zwang verändert, sondern allmählich. Aus Einsicht. Und Vergnügen. Dann haben eroberte Freiräume, neu geschaffene Lücken eine Chance, bestehen zu bleiben. Auch wenn der nächste Trend ausgerufen wird.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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