Analyse Die Krise der Linken in Europa

Berlin · Die Sozialdemokratie steckt international in einer tiefen Krise. Auch in Deutschland ist diese Entwicklung mit dem historisch schlechtesten Ergebnis der SPD angekommen. Ist die SPD überflüssig geworden?

Analyse: Die Krise der Linken in Europa
Foto: Die Welt, Grafik: C. Schnettler

Vor 92 Jahren war Europa geprägt von Grenzen. An eine Einheit der Nationalstaaten war damals nicht zu denken. Und doch schrieb die SPD 1925, sieben Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und acht Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, in ihr Heidelberger Programm, die "Vereinigten Staaten von Europa" müssten die Antwort auf den verheerenden Krieg sein.

Das ist ein Beispiel dafür, dass sich die deutsche Sozialdemokratie, ebenso wie ihre Schwesterparteien in anderen Ländern, seit jeher dem europäischen Projekt verschrieben hat. Gekommen sind die Europäische Union und die Währungsunion, was freilich nicht nur auf das Wirken von Sozialdemokraten zurückgeht. Gekommen ist aber auch eine tiefe europäische Krise, die so weit geht, dass ein Land wie Großbritannien nach 44 Jahren Mitgliedschaft heute wieder aus der EU ausscheiden will.

Und es ist fast wie in einer Symbiose: Wie Europa als Gemeinschaft sind auch die europäischen Sozialdemokraten in eine tiefe Krise gestürzt. Noch vor Jahren war Europa fast vollständig aufgeteilt in konservativ oder sozialdemokratisch angeführte Länder, das traf 1997 auf 25 der heute 28 Mitgliedstaaten zu. Der Einfluss der Roten war groß, sie waren auch in Brüssel mit Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und anderen richtungsentscheidend. Heute stellen die beiden großen Blöcke nur noch in 16 der 28 Staaten den Regierungschef.

Die Auswirkungen, insbesondere bei den Sozialdemokraten, sind dramatisch. In Frankreich haben die Wahlniederlagen den Sozialisten nicht nur politisch stark zugesetzt. Auch finanziell stehen sie vor dem Ruin, mussten jüngst sogar ihre Parteizentrale verkaufen. In Griechenland waren die Sozialdemokraten jahrelang an der Macht, stürzten dann aber von 43 Prozent im Jahr 2009 auf 6,3 Prozent im Jahr 2015 ab. Jetzt sind in Athen Linkssozialisten außerhalb des sozialdemokratischen Spektrums am Ruder. Auch in den Niederlanden sieht es düster aus. Im März erhielt die Arbeitspartei - wie jetzt die deutsche SPD - ihr historisch schlechtestes Ergebnis. Von 38 Sitzen blieben neun übrig. In Spanien und Polen liegen die Sozialdemokraten am Boden, in Österreich und Italien droht ihnen bei den nächsten Wahlen ebenfalls eine Schlappe. Einzig in Portugal und ein paar wenigen anderen Staaten können die Genossen noch gute Zahlen vorweisen.

Der französische Politologe Gaël Brustier fügte dem mal hinzu, die europäischen Sozialdemokraten hätten viele Stammwähler an andere - vor allem populistische - Parteien verloren, die Kader seien in den vergangenen Jahren im Durchschnitt deutlich älter geworden, es fehle auf europäischer Ebene eine Instanz, die die Richtung vorgeben könnte. "Die Sozialdemokratie ist heute ein verwundeter und geschwächter Riese", so Brustier.

In der Wissenschaft gibt es, in Anlehnung an den Niedergang der griechischen Sozialisten und deren Kürzel Pasok, bereits den Begriff der "Pasokisierung". Das Abrutschen linker Parteien ist zu einem breiten Trend geworden, mit 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl ist nun auch die SPD in dieser brutalen Realität erwacht. Doch woher kommt dieser Trend? Und vor allem: Wie können die Sozialdemokraten ihn wieder umkehren?

Viel zu tun hat der Niedergang mit dem allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel in Europa. Die klassischen Arbeitskämpfe in Industriegesellschaften, die von einem hohen Organisationsgrad der Arbeitnehmer geprägt waren, haben mit dem globalen Strukturwandel hin zu Dienstleistungen drastisch an Bedeutung verloren. Gerade am Beispiel der SPD lässt sich gut ablesen, wie Sozialdemokraten über die Jahrzehnte immer mehr Probleme bekamen, ihr einstiges Profil als Arbeiterpartei neu zu erfinden.

Nach den harten Sozialreformen der Schröder-Jahre folgte eine wirtschaftlich glänzende Zeit, die bis heute anhält. Die SPD galt vielen bisherigen Stammwählern nach der Agenda-Politik jedoch als Verräterpartei. Hinzu kommt, dass die großen gesellschaftlichen Probleme von einst zusammenschrumpfen: Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit konzentriert sich künftig immer stärker nur auf Langzeitarbeitslose, Mindestlohn, die Rente mit 63 und zahlreiche familienpolitische Leistungen wurden umgesetzt. Die SPD war fleißig, sie hat wie andere Schwesterparteien in Europa ihre Ideen vom Sozialstaat in weiten Teilen realisieren können. Die Kehrseite: Die ohnehin immer gemäßigteren Parteiprofile fransten immer weiter aus. Also Zweck erfüllt und jetzt haben sich die Genossen zu Tode gesiegt? Wohl kaum.

Denn noch immer gibt es selbst im prosperierenden Deutschland das Problem der wachsenden Ungleichverteilung von Vermögen und Chancen. Die Digitalisierung bringt für Arbeitnehmer Herausforderungen mit sich, die vielerorts nach der Begleitung durch Arbeiterparteien und Gewerkschaften verlangen. Und auch in Europa sind die Probleme mit ultralinkem und rechtem Populismus sowie dem verbreiteten Rückzug ins Nationale so groß, dass es einer Rückbesinnung der Sozialdemokraten auf eine ihrer Kernkompetenzen bedarf: das Weiterentwickeln der europäischen Idee.

Der Berliner Parteienforscher Gero Neugebauer formulierte das vor gut einem Jahr so: "Die Sozialdemokratie muss nach europäischen Lösungen für die Probleme suchen, die dazu führen, dass sie in den jeweiligen Ländern in Probleme gerät." Das gelte für Integration und Zuwanderung genauso wie für die Schaffung von Jobs oder die Bewältigung der Staatsverschuldung. Nicht umsonst sagte die neue SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles gestern nach ihrer Wahl, die SPD werde im neuen Parlament die Europapartei sein und erwähnte dabei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron - nicht etwa den altlinken Labour-Chef Jeremy Corbyn aus Großbritannien. Sie weiß: Der letzte Warnschuss ist gefallen.

(jd)
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