Demokratie-Serie (6) Die Macht der Richter
Düsseldorf · Die richterliche Macht ist nicht unbegrenzt, aber sie ist groß. Nirgendwo lässt sich das so gut beobachten wie am Bundesverfassungsgericht. Die 16 höchsten Richter arbeiten in einem extremen Spannungsfeld.
Es ist ein ganz normaler Samstag im Februar 2012. Als Andreas Voßkuhle an sein Mobiltelefon geht, meldet sich die Bundeskanzlerin. Angela Merkel braucht einen neuen Bundespräsidenten. Sie will wissen, ob Voßkuhle bereitstünde, als Kandidat der Union in der Bundesversammlung. Der Freiburger reagiert anders, als Merkel erwartet hat, und erbittet sich etwas Bedenkzeit. Als er die Kanzlerin dann ein wenig später zurückruft, lehnt er ab. Voßkuhle bleibt in Karlsruhe, bleibt Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Vier Jahre später wiederholt sich das Prozedere mit leichten Abwandlungen. Als Joachim Gauck seinen Rückzug ankündigt, fragt Sigmar Gabriel abermals bei Voßkuhle an. Ob er als Bundespräsident bereitstünde? Als Kandidat der SPD in der Bundesversammlung? Und wieder sagt dieser: Nein, vielen Dank. Dieser Richter will kein Politiker werden, er will weiterhin die Verfassung hüten und erklären.
Man könnte sagen: Mit dem Wegzug aus Karlsruhe hätte Voßkuhle viel Macht verloren. Seit seiner Wahl zum Richter am höchsten deutschen Gericht 2008 entscheidet er schließlich mit, wie viel Europa dieses Land verträgt, wie viele Finanzhilfen die Nachbarländer bekommen dürfen und wie viele Rechte Homosexuelle bekommen müssen. In Schloss Bellevue hätte Andreas Voßkuhle, der 53 Jahre alte Rechtsprofessor, neben ein paar anderen Annehmlichkeiten Hände schütteln und nett grüßen können. Er wäre Staatsoberhaupt gewesen, nicht mehr der oberste Deuter des Rechts.
Seit seiner Gründung im Jahr 1951 steht das Bundesverfassungsgericht in der Kritik der Politik. Als etwa die CSU 1973 die Ostpolitik Willy Brandts vor das Gericht brachte, tobte der damalige SPD-Fraktionschef Herbert Wehner: "Wir lassen uns doch von den Arschlöchern in Karlsruhe nicht unsere Politik kaputt machen." Ein Satz für Geschichtsbücher, ein Satz, den heute niemand mehr laut wiederholen würde. Aber auch ein Satz, dem viele Politiker heimlich zustimmen dürften. Harmlos klingt daher schon, wie der frühere Innenminister Hans-Peter Friedrich Voßkuhle empfahl, für den Bundestag zu kandidieren, wenn er Politik machen wolle.
Im Gefüge der Bundesrepublik haben Richter viel Macht. Sie entscheiden über Freiheit, Strafe, Geld - und damit immer über Schicksale. Richter sprechen Recht, sie deuten das, was der Gesetzgeber beschlossen hat, und wenden es auf den konkreten Einzelfall an. Sie stiften Rechtsfrieden, beenden zwischenmenschliche und juristische Konflikte, sie entscheiden sich, wo andere nicht entscheiden wollen. Aber machen sie Politik?
Für jeden Einzelnen kann das Urteil eines Richters das Leben verändern. Stammt das Urteil aber aus dem Schloßbezirk in Karlsruhe, verändert es oftmals nicht nur das Leben des Einzelnen, sondern das der ganzen Gesellschaft. Die 16 Richter in Karlsruhe haben die Macht, Gesetze des Deutschen Bundestages für nichtig zu erklären. Sie kontrollieren, ob sich die gesetzgebende Gewalt an die eigenen Regeln hält. Sie entscheiden letztverbindlich über die Auslegung des Grundgesetzes. Karlsruhe locuta, causa finita - hat Karlsruhe geurteilt, ist der Fall beendet. Es ist dieses extreme Spannungsfeld, das so oft politischen Sprengstoff birgt. Wenn ein paar Richter das Werk des einzigen direkt demokratisch legitimierten Organs auf Bundesebene, das des Bundestages, verwerfen, dann müssen sie gute Gründe haben. Und sehr viel Macht.
Die Architektur des Staates aber setzt auf dieses Spannungsfeld. Der Bundestag wählt die Regierung, die Richter des Bundesverfassungsgerichts, beschließt Gesetze. Die Bundesregierung führt die Gesetze aus, führt die Ministerien an und bringt Gesetzesvorschläge in den Bundestag ein. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert alles, was ihm vorgelegt wird. Es wird als "Hüter der Verfassung" bezeichnet, dabei steht es nicht außerhalb der Verfassung, sondern unterhalb. Es darf nicht mehr, als ihm das Grundgesetz aufträgt. Aber das ist eine ganze Menge. Die Richter greifen in den politischen Prozess ein, wenn sie eine Partei verfassungsfeindlich nennen. Sie beginnen und beenden Diskussionen, wenn sie Hinweise geben, wie man einer Partei an die Finanzierung gehen könnte. Wie zuletzt beim gescheiterten NPD-Verbot.
Als das Bundesverfassungsgericht mit dem Lissabon-Urteil zum gleichnamigen EU-Reformvertrag Teile des deutschen Europarechts für verfassungswidrig erklärte, lieferte es einen eigenen Entwurf für die Entwicklung der EU. Es definierte, wann etwa das Gericht über welche Maßnahmen letztverbindlich entscheide, es sprach sich selbst Kompetenzen zu, die nirgendwo im Gesetz stehen. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sagte damals: "Das Gericht betreibt zunehmend Verfassungspolitik."
Die beiden Senate in Karlsruhe sprechen oft vom Ermessensspielraum des Gesetzgebers, den das Gericht zu berücksichtigen habe. Das Bundesverfassungsgericht darf nicht seine Meinung an die Stelle der Meinung des politischen Gesetzgebers stellen. Es darf bloß überprüfen, ob diese Meinung gegen die Verfassung verstößt. Und das ist ja auch ein ganz heilsamer Gedanke, dass es in Karlsruhe eine Institution gibt, die das Schlimmste verhindern kann. Die einem deutschen Donald Trump ins rechtsstaatliche Zeugnis ein Ungenügend schreiben dürfte. Die die Zügel der Demokratie fest in der Hand hält und nicht loszulassen gedenkt.
Immer häufiger aber muss das Gericht politisch entscheiden, unter dem Deckmantel des Rechts. Das liegt nicht so sehr am Machthunger der Richter, sondern an der Entscheidungsunfähigkeit, die der Gesetzgeber hin und wieder aufweist. Im Falle Europas war das Bundesverfassungsgericht stets Motor der Integration. Im Falle Europas waren die Richter Verfassungs-Politiker. Sie regelten hier und auch gelegentlich in anderen Bereichen, was niemand zu regeln gewagt hat. Man sollte ihnen dafür dankbar sein.