Analyse Die Militarisierung der Großstädte

London · Das Reisen hat sich verändert, die Welt ist kleiner geworden. Krieg und Terror schränken unsere Freizügigkeit ein. Und selbst die europäischen Metropolen sehen inzwischen aus wie Festungen.

Analyse: Die Militarisierung der Großstädte
Foto: dpa

Die Ferien gehen zu Ende, die Menschen kehren nun heim und manche womöglich mit einem komischen Gefühl. Der Urlaub war schön, das schon. Aber das Reisen und vor allem all das, was man mit dem Unterwegssein verbindet, haben sich verändert. Es wirkt, als sei die Welt kleiner geworden. Das liegt einerseits daran, dass auf den Internetseiten des Auswärtigen Amts selten so viele Reisewarnungen und Sicherheitshinweise standen wie in diesen Tagen. Selbst Spanien wird dort nach dem Anschlag von Barcelona in der vergangenen Woche aufgeführt. Terrorismus und Krieg haben unsere Freizügigkeit stark eingeschränkt. Vielleicht wird man nie im Leben in den Jemen fahren, nie nach Damaskus und Bagdad. Außerdem gibt es immer mehr Länder, in die man aus moralischen Gründen nicht mehr reisen mag, die Türkei etwa. Amerika könnte demnächst auch hinzukommen.

Der Grenzübertritt, den man einst als Verheißung betrachtet hat, weil dahinter das Fremde, das Abenteuer und das Neue warteten, wirkt heute oft als Bedrohung, und das ist traurig. Der Schriftsteller Matthias Politycki geht in seinem Buch "Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken" darauf ein. Als Jugendlicher ist er in den 70er Jahren einfach aufgebrochen, mit Freunden oder allein und möglichst über die touristisch erschlossenen Regionen hinaus. Sein Unterwegssein betrachtete er als Nonkonformismus, und wenn er den Schlafsack irgendwo in Jugoslawien unter den Sternen ausrollte, fühlte er sich wirklich frei. Heute hingegen, so Politycki, sei es kaum mehr möglich, hinter den Horizont zu gelangen. Nach dem 11. September 2001 sei die Routenplanung immer stärker eingeschränkt worden, zuletzt noch einmal deutlich spürbar. An den Möglichkeiten des Reisens erkenne man, dass die Weltordnung in Bewegung geraten sei. Und mit ihr Werte und Überzeugungen.

Man kann nun sagen, die Einschränkungen dienten ja der eigenen Sicherheit; wer will schon in Konfliktregionen oder Krisengebiete geraten. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Der "Krieg gegen den Terror" findet nämlich nicht irgendwo da draußen statt, das Schlachtfeld liegt vor unserer Haustür, in den europäischen Metropolen. Wer jüngst in Paris oder London war, weiß das. Teile dieser Städte muten wie Festungen an: Polizisten und Militärs. Gitter und Poller. Bevor Familien Sehenswürdigkeiten besichtigen dürfen, müssen sie in den Lauf eines Maschinengewehrs blicken.

Europäische Metropolen militarisieren sich selbst. Den treffenden Begriff der "Airportisierung der Städte" prägte neulich die "Süddeutsche Zeitung" in Bezug auf die vielen Kontrollen und Schleusen. Der Stadtforscher Stephen Graham von der Universität Newcastle hat ein Buch über das Phänomen des "militarisierten Urbanismus" geschrieben: "Cities Under Siege" heißt es, Städte im Belagerungszustand. London ist demnach "fearscape", Angst-Raum also, Finanzdistrikt und Diplomatenviertel erinnern an die Grüne Zone in Bagdad.

In London, schätzt man, verfolgen 400.000 Überwachungskameras die Schritte der Bürger. Jeder Mensch wird dort im Durchschnitt 70 Mal pro Tag gefilmt. Der Mensch ist also potenzielles Zielobjekt, der aus einem Befehlsstand heraus gegebenenfalls auch per GPS-Überwachung oder Drohne ins Visier genommen werden kann. Jeder neue Anschlag erhöht das Bedürfnis, sich vor der abstrakten Bedrohung durch den Terrorismus zu schützen. Das Problem ist, dass niemand weiß, wer wann und wie zuschlägt. Also wird das Targeting, die virtuelle Zielfahndung, auf alle ausgeweitet: Augapfel-Screening am Flughafen, Gesichtserkennung beim Betreten von Gebäuden. Die Welt wird zum Datengefängnis. Die neuen Stadtmauern sind zu großen Teilen virtuell und doch massiv.

Das Aufrüsten gegen einen Feind, der nicht kalkulierbar ist, verändert auch die Architektur der Städte. Als "weaponized architecture" ("Kriegsarchitektur") werden neue Botschaftsgebäude bezeichnet, die wie Bunker erscheinen: fensterlos in den unteren Stockwerken, weiter oben lediglich mit schießschartenartigen Öffnungen. Kleine Eingänge werden in Mauern mit unterschiedlichen Neigungswinkeln versteckt. Am trutzigen Eindruck ändert auch die Tatsache nichts, dass man oft eine Glaskuppel über die Bauten stülpt - aus Panzerglas. Vorgefahren wird im SUV.

Die Stadt, könnte man meinen, verschanzt sich vor dem Menschen. Dabei gilt die Metropole als Symbol des freien Lebens, als Ort, an dem jeder seinen individuellen Daseinsentwurf verwirklichen kann. Es scheint, als stehe das offene System, diese Utopie eines aufgeklärten Zusammenlebens, vor dem Ende. Wenn Architektur ein Spiegel der Gesellschaft ist, verbildlichen viele Metropolen mittlerweile nicht mehr Lebensfreude. Sondern Angst.

"Die Welt ist kleiner, weniger freundlich und verheißungsvoll geworden", schreibt Matthias Politycki in seinem melancholischen Reisebuch. Sein Fazit: "Der Kosmopolit des 20. Jahrhunderts ist der große Verlierer des 21. Jahrhunderts." Aber lautet das Gebot der Stunde nun wirklich, nicht länger zu reisen, sondern die Geborgenheit daheim vorzuziehen? Ist das die Alternative? Auf die Mail mit dieser Frage antwortet Politycki rasch: Er habe wunderbarerweise gerade eine Internet-Verbindung, zum ersten Mal seit Tagen, denn er befinde sich in Kambodscha. Er sei zu dem Schluss gekommen, dass Zuhausebleiben die Kapitulation vor der Gegenaufklärung sei. Jeder Aufbruch hingegen bedeute subtilen Widerstand, davon sei er inzwischen überzeugt. Mit jeder Reise zögerten wir den Untergang der zivilisierten Welt hinaus. Geht auf Reisen, ruft Politycki also - trotz alledem.

Denn: "Der Vielgereiste haftet stärker an der Erde als der Niegereiste."

(hols)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort