Brüssel Die neue Angst vor Chinas Billig-Exporten

Brüssel · Ist China inzwischen eine Marktwirtschaft? Von der Antwort der EU auf diese Frage hängen in Europa möglicherweise Millionen Jobs ab. Bis Jahresende muss sie gegeben werden.

Die "Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung" aus dem Jahr 1957 waren prophetisch: Ganz bestimmt könne China ein "Land mit moderner Industrie, moderner Landwirtschaft und moderner Wissenschaft und Kultur aufbauen". Es ist heute wirtschaftlich erfolgreicher, als es manchem globalen Konkurrenten lieb sein kann. Der Chef der Kommunistischen Partei, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Volksrepublik ausgerufen hatte, war sich auch in einem anderen Punkt sicher: "Das sozialistische System wird letzten Endes an die Stelle des kapitalistischen Systems treten." Ob er sich wohl in seinem Mausoleum an Pekings Tian'anmen-Platz umdrehen würden, wenn er wüsste, dass seine Nachfolger alles daran setzen, von der EU ganz offiziell als Marktwirtschaft anerkannt zu werden?

Dass vom kommunistischen Erbe vor allem die volle Kontrolle aller Bereiche des öffentlichen Lebens geblieben ist, in Chinas Wirtschaft inzwischen jedoch das Privateigentum geschützt und knallhartes Profitstreben praktiziert wird, beschäftigt Wissenschaftler schon lange. Sie haben für Chinas aktuellen Aggregatzustand den Begriff vom "autoritären Staatskapitalismus" geprägt. Nun aber muss aus der theoretischen Frage bis Ende dieses Jahres eine Entscheidung mit ganz praktischen Konsequenzen werden.

Hintergrund ist Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO am 11. Dezember 2001. Damals wurde China als "Nicht-Marktwirtschaft" eingestuft - ein Status, der es unter anderem der Europäischen Union erlaubt, chinesische Importgüter mit Anti-Dumping-Schutzzöllen zu belegen. Schließlich findet in einem Land ohne Marktwirtschaft keine Preisbildung nach den Gesetzen des Marktes statt, weshalb Waren weit unter Weltmarktpreis auf eben jenem Weltmarkt landen und den Wettbewerb verzerren können. Insgesamt mehr als 50 Produkte aus dem Reich der Mitte hat die EU derzeit mit solchen Einfuhrzöllen belegt. Damit jedoch könnte bald Schluss sein. In Artikel 15 des WTO-Beitrittsvertrages wurde den Chinesen zugesagt, dass sie spätestens nach 15 Jahren handelspolitisch wie eine Marktwirtschaft behandelt und die Abwehrmaßnahmen auslaufen werden - also am 11. Dezember diesen Jahres. Bis dahin müssen auch die Europäer ihre Rechtstexte entsprechend ändern.

Richtig in Fahrt gekommen ist die Brüsseler Debatte darüber durch eine Studie der gewerkschaftsnahen Washingtoner Denkfabrik "Economic Policy Institute", die einer EU ohne Anti-Dumping-Zölle gegenüber China einen gewaltigen Verlust von 1,7 bis 3,5 Millionen Arbeitsplätzen prophezeit. "Diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen", sagt dazu der Grüne Reinhard Bütikofer, der im Europaparlament der China-Delegation angehört, "aber dass es ein Problem gibt, kann man schwer bestreiten." Während die Brüsseler Handelsjuristen schlicht die Umsetzung des Vertrages vorbereiteten, sei dies, so Bütikofer, "politisch undenkbar: Man stelle sich nur vor, die Rechtsextremistin Marine Le Pen kann nächstes Jahr in den französischen Präsidentschaftswahlkampf mit der Parole ziehen, dass die EU Zehntausende Jobs verschenkt hat".

Die Aufhebung der Schutzzölle fiele zudem in eine Zeit, in der die chinesischen Exporteure besonders aggressiv auf den europäischen Markt drängen. Erst vor zwei Jahren etwa wurden deshalb Zölle auf Solarpanels erhoben. Und im Stahlsektor hat Peking einen Teil seiner Überkapazitäten in Großbritannien abgeladen, wo die Verdoppelung der Importmenge innerhalb nur eines Jahres mehrere Unternehmen in den Ruin getrieben hat.

Den Ernst der Lage hat Mitte Januar auch die Brüsseler Kommission erkannt, die in handelspolitischen Dingen alle Verhandlungen im Namen der EU-Staaten führt. Beschlossen wurde, eine zusätzliche Studie zur Abschätzung der Folgen in Auftrag zu geben, die eine Veränderung des Status quo hätte. "Wir analysieren sehr genau die wirtschaftlichen Auswirkungen, bevor wir eine Position einnehmen", heißt es in der Behörde: "Alle relevanten Fakten müssen auf den Tisch." Dabei gehe es auch um mögliche Maßnahmen, die die Folgen einer Entscheidung wenigstens abmildern könnten. Im Sommer, so der niederländische Kommissionsvize Frans Timmermans , "kommen wir auf das Thema zurück".

Längst jedoch wird in Brüssel fieberhaft überlegt, wie sich die Gemeinschaft aus der Zwangslage befreien kann, in die sie die in den WTO-Vertrag geschriebene Frist gebracht hat. Die meisten Akteure sind sich nämlich einig, dass man die Anerkennung Chinas als Marktwirtschaft zwar nicht einfach durchwinken kann, es aber auch nicht möglich ist, die WTO-Vorgabe einfach zu ignorieren. Nicht nur dass der britische Premier David Cameron der chinesischen Führung den Marktwirtschaftsstatus bereits in die Hand versprochen hat und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Peking-Besuch im Herbst Ähnliches andeutete. Intern haben die Chinesen EU-Diplomaten zufolge sehr deutlich gemacht, dass sie die Gemeinschaft vor der WTO verklagen würden, sollte sie ihren entsprechenden Rechtstext nicht ändern. "Europa hätte unter einem möglichen Handelskrieg viel mehr zu leiden als etwa die USA", meint Grünen-Parlamentarier Bütikofer. Denn in Washington, das seine Abwehrinstrumente ebenfalls nicht aufgeben will, gibt es keine ins Gesetz geschriebene Passage über den Marktwirtschaftsstatus, sondern grundsätzlich nur Einzelfallentscheidungen.

Was also tun? "Es muss einen gleichwertigen Ersatz für die Anti-Dumping-Zölle geben", fordert etwa der SPD-Abgeordnete Jo Leinen, Vorsitzender der China-Delegation. Alternativ könne Peking der begehrte Status zwar gewährt werden, heikle Branchen wie Stahl, Textilien oder Keramik müssten jedoch ausgenommen bleiben. So halte es übrigens Australien schon seti zehn Jahren, und zwar unwidersprochen. "Den Chinesen geht es vor allem um das Prestige."

Der Nachteil eine solchen Regelung wäre freilich, dass Europa nur schwer reagieren könnte, sollten chinesischen Billigexporte künftig in anderen Branchen für Probleme sorgen. Eine weitere Idee sieht dagegen vor, die Anti-Dumping-Maßnahmen aus dem Gesetz zu streichen und dieses damit WTO-konform zu machen. Dafür aber sollten der EU-Kommission weitreichende exekutive Freiheiten zur Verhängung anderer Abwehrmaßnahmen eingeräumt werden. Seit zwei Jahren liegt ein ähnlich gelagerter Kommissionsvorschlag für modernere Handelsinstrumente auf dem Tisch, aber er wird seither von den EU-Regierungen blockiert: In Nordeuropa befürchtet man, die Kommission könne ihr neues Arsenal zu protektionistisch auslegen. In Südeuropa dagegen hat man Angst vor dem ungehinderten Durchmarsch der liberalen Freihändler. Dabei ist klar, dass die EU ohne klare Haltung gegenüber China gar nicht erst in Verhandlungen zu gehen braucht.

(RP)
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