Analyse Die Schwachstelle der Weltgesundheit

Genf · Die glücklose Margaret Chan verlässt nach zehn Jahren die Weltgesundheitsorganisation. Sie hinterlässt ein schweres Erbe - die oberste internationale Gesundheitsbehörde befindet sich in einer Krise.

Rund 11.000 Menschen starben bei der Ebola-Epidemie, die im Jahr 2014 ausbrach, einen qualvollen Tod. Betroffen waren vor allem die armen westafrikanischen Länder Liberia, Guinea und Sierra Leone. In Berlin haben sich am Wochenende die G 20-Gesundheitsminister getroffen - sie sehen Ebola als Mahnmal. Das gemeinsame Ziel: Eine derartige Katastrophe soll sich nicht wiederholen. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) warnte jedoch: "Die nächste Gesundheitskrise mit globalen Auswirkungen wird kommen." Er betonte: "Wir wissen nicht wann, wo und wie gefährlich das Virus sein wird." Künftig sollen grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren jedoch schneller erkannt und bekämpft werden. Die Staatengemeinschaft will dafür nun bei regelmäßigen gemeinsamen Übungen etwa den Ausbruch einer schweren Infektionswelle simulieren und die Reaktion darauf erproben, hieß es gestern in der Abschlusserklärung des Gesundheitsgipfels.

Gröhe setzt sich außerdem für die Stärkung der Weltgesundheitsorganisation WHO ein. Doch die 1948 gegründete oberste internationale Gesundheitsbehörde mit 194 Mitgliedstaaten, zu deren Aufgaben der Kampf gegen übertragbare Krankheiten gehört, befindet sich in einem denkbar schlechten Zustand. Dazu trug in den vergangenen zehn Jahren auch Generaldirektorin Margaret Chan bei, die Anfang 2007 auf dem Chefsessel in Genf Platz nahm. Sie sorgte beispielsweise nach einem Besuch in Nordkorea für heftiges Stirnrunzeln. Die Diktatur biete ihren Bewohnern ein beispielhaftes Gesundheitssystem, behauptete Chan. Die meisten anderen Entwicklungsländer würden Nordkorea darum beneiden. Chan hatte 2010 Nordkorea besucht, die dortigen Machthaber blendeten die promovierte chinesische Medizinerin mit geschönten Statistiken und herausgeputzten Krankenstationen.

Das Lob auf die vermeintlichen Errungenschaften Nordkoreas war noch ein vergleichsweise leichter Schnitzer, der Chan (69) in ihrer Amtszeit unterlief. Insgesamt legte sie keinen überzeugenden Leistungsnachweis vor. Am 30. Juni läuft Chans Vertrag aus. "Sie hat das Herz am rechten Fleck, aber sie ist gestolpert, und einige Male stolperte sie übel", urteilt der amerikanische Gesundheitsexperte Lawrence Gostin im Nachrichtenportal "Politico". In der Fachwelt ist man sich einig: Chans Nachfolger als Generaldirektor, der morgen gewählt werden soll, tritt ein schweres Erbe an.

Der schlimmste Fehler, für den Chan die Verantwortung trägt, ist jedoch die katastrophal langsame Reaktion auf den Ebola-Ausbruch. Die WHO erkannte zunächst nicht die Gefahr, gewährte den drei bitterarmen Ländern monatelang nicht die nötige Hilfe. Die Antwort der WHO auf die Krise sei "langsam, lachhaft und unverantwortlich", urteilte die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im August 2014. Auch der Entdecker des Ebola-Erregers, der Belgier Peter Piot, prangerte die Nachlässigkeiten der WHO an. Die Organisation habe "wertvolle Zeit" vergeudet, um Menschenleben zu retten. Später musste eine zerknirschte Chan die schwerwiegenden Versäumnisse der WHO einräumen.

Nach dem Ausbruch einer anderen Epidemie erntete Chan ebenfalls harsche Kritik. Doch im Fall der Schweinegrippe 2009 monierten Chans Gegner, die Generaldirektorin habe übertrieben und unnötig Ängste geschürt. Tatsächlich steigerte Chan vor laufenden Kameras den internationalen Gesundheitsalarm auf die höchste Stufe. "Die Welt ist nun am Beginn der Grippe-Pandemie 2009", verkündete sie mit todernster Miene. WHO-Mitarbeiter warnten vor den katastrophalen Folgen der Pandemie für die Menschheit. Medien zogen Vergleiche zu der 1918 ausgebrochenen Spanischen Grippe, die mehrere zehn Millionen Menschen getötet hatte. Die Produktion von Impfmitteln lief heiß, Regierungen deckten sich ein. Letztlich aber fiel die Schweinegrippe wesentlich milder aus als befürchtet - und die Pharmaindustrie strich satte Gewinne ein. Gerüchte über Kungelei der WHO und den Firmen machten die Runde.

Dass die Organisation mit Big Business verbandelt ist, kann auch Chan nicht leugnen. So überweist Microsoft-Gründer Bill Gates über seine Stiftung immense Summen an die WHO. Erst neulich machte Gates umgerechnet mehr als 320 Millionen Euro locker, für den Kampf gegen Tropenkrankheiten. So honorig Philanthropen wie Gates auch sein mögen, die WHO begibt sich in die Abhängigkeit einzelner Personen und ihrer Launen.

Deshalb fordern Hilfsorganisationen wie "Brot für die Welt" mehr staatliche Gelder für die WHO, besonders von den führenden Wirtschaftsmächten. Warum aber scheuten sich die reichen Staaten bisher, der WHO finanziell richtig unter die Arme zu greifen? Chans Kritiker haben eine Antwort: "Chan hat bei den Geberländern viel Vertrauen verspielt", heißt es aus Diplomaten Kreisen. Die Geberländer hoffen jetzt wohl auf einen Neustart. Auch die "Ärzte ohne Grenzen" machen sich für Reformen stark, fordern aber zugleich, dass die WHO die nötige politische Unterstützung der Mitgliedsländer erhält.

Bundesgesundheitsminister Gröhe will sich zum heutigen Start der WHO-Jahrestagung dafür starkmachen, dass die Organisation finanziell angemessen ausgestattet wird. Deutschland setzt sich für die Erhöhung des Pflichtbeitrags der Mitgliedstaaten um drei Prozent ein. Das Gesundheitsministerium hat in diesem Jahr seine freiwilligen Beiträge von fünf auf 35 Millionen Euro erhöht.

Margaret Chan wird den möglichen Neustart in Genf aus der Ferne verfolgen. Dem Vernehmen nach wird sie nach Hongkong zurückkehren.

(RP)
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