Basel Die Schweiz entschädigt ihre ehemaligen "Verdingkinder"

Basel · Für den kleinen Pauli beginnt der Arbeitstag in der Dunkelheit. Um vier Uhr morgens. Stall ausmisten, Milch ins Dorf tragen, sensen. Pauli muss auf einem Bauernhof in dem Schweizer Dorf Nusshof bei Basel schuften. Vor der Schule, nach der Schule. Mit der Bauernfamilie darf er nicht am Tisch sitzen. Abends im Bett heult Pauli, das sogenannte Verdingkind. Die Schweizer Behörden hatten Pauli in den 50er Jahren seinen Eltern weggenommen. Vater und Mutter konnten für ihren Sohn nicht sorgen.

Zunächst kam der Junge in ein Jugendheim. Dort wurde er "nach Strich und Faden ausgebeutet", erinnert sich Paul Richener (67) heute. Nach dem Heim malochte er 13 Jahre lang auf dem Bauernhof. "Als Verdingbub warst Du ein Nichts", sagt Richener. Nach Schätzungen leben noch bis zu 15.000 Männer und Frauen in der Schweiz, die in ihrer Kindheit und Jugend schwere Diskriminierung, Erniedrigung und Gewalt erdulden mussten.

Jetzt stellt sich die Eidgenossenschaft diesem düsteren Kapitel ihrer Geschichte: Die früheren Verdingkinder und andere Opfer von Zwangsarbeit sollen eine "Solidaritätszahlung" von bis zu 23.000 Euro erhalten. Insgesamt stellt der Staat rund 276 Millionen Euro bereit. Im neuen "Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981" erkennt die Schweiz das Unrecht an.

Die "Fürsorge" war bis 1981 von ganz spezieller Natur: Die Behörden konnten Kinder von Armen und Alkoholikern in Heime sperren oder zur Zwangsadoption freigeben. Zu den Opfern zählten auch Waisenkinder und Kinder geschiedener Eltern. Viele Kinder wurden an Bauern oder kleine Betriebe gegeben, wo sie faktisch Zwangsarbeit leisten mussten. Die kleinen Knechte und Mägde wurden gedemütigt, geschlagen und nicht selten sexuell missbraucht. Zudem ordneten die Ämter Zwangssterilisierungen bei sozial schwachen und kranken Menschen an.

(RP)
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