Analyse Die Unberechenbaren

Athen · Politiker der Europäischen Union beklagen die unkonventionelle Verhandlungsweise der griechischen Politiker. Dahinter aber steckt eine Überlebensstrategie. Wissenschaftler nennen sie proteisches Verhaltensmuster.

Wenn scharfsinnige Analytiker glauben, den Wiener Dichter Ernst Jandl zitieren zu müssen, um mit seinen Versen die Euro-Krise zu beschreiben, dann muss es zappenduster sein. "Lechts und rinks sind leicht zu velwechsern", war unlängst zur griechischen Schulden-, Finanz-, Euro- und Europa-Krise zu lesen. Das klingt nach einer Mischung aus Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Und wer in den zurückliegenden Wochen all die finalen Gespräche in so vielen letzten Sekunden, die eindringlichen Ultimaten und atemlosen Entscheidungen verfolgt hat (freilich mit zunehmend einschläfernder Wirkung), wird Jandl wahrscheinlich recht geben. Weil vor allem mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras (40) etwas in die europäische Politik zurückgekehrt ist, das in diesem Umfang nicht mehr bekannt war: die Unberechenbarkeit.

Zu diesem Befund ist mittlerweile nicht nur EU-Präsident Martin Schulz gekommen ("Tsipras ist unberechenbar und manipuliert die Menschen"), sondern selbst Jürgen Habermas, der den Griechen eher wohlwollend gegenübersteht. Er könne nicht beurteilen, so der Philosoph, "ob dem taktischen Vorgehen der griechischen Regierung eine überlegte Strategie zugrunde liegt". Und ebenso ratlos konstatiert Habermas, warum es die griechische Regierung selbst ihren Sympathisanten so schwer mache, "eine Linie in ihrem erratischen Verhalten zu erkennen". Die Griechen machten ganz Europa verrückt, heißt es. Und: Nun schlage die Stunde des magischen Denkens. Das hört sich feuilletonistischer an, als es das aktuelle politische Dilemma zu vertragen scheint.

Unberechenbares Handeln - wie zuletzt der Wunsch nach einer Befragung des griechischen Volkes mit gleichzeitiger Bitte, den Bedingungen der EU nicht zuzustimmen - kann durchaus ein Instrument strategischen Handelns sein. Gerade ihm liegt ein Plan zugrunde. Denn wer gezielt unberechenbar sein will, muss zunächst sehr genau berechnen, was eigentlich von ihm erwartet wird. Nur mit dieser Kenntnis oder wenigstens Ahnung kann unberechenbares Handeln wirken. Fußballfunktionär Sepp Blatter sowie der russische Präsident Wladimir Putin gehören zu jenen, die so taktieren.

In der griechischen Regierung scheint bewusste Irrationalität ein Strukturmerkmal zu sein. Bei dem Versuch, die Krise im Sinne Griechenlands so glimpflich wie nur eben möglich zu meistern, werden immer wieder Entscheidungen getroffen, die man freundlich als überraschend bezeichnen darf; die in Einzelfällen indes auch eine Abkehr von politischer Vernunft dokumentieren. Dazu gehört das Referendum selbst, das wie eine mächtige Waffe der Legitimation erscheint. Allerdings ist die Abstimmung auch ein Schutzschild, hinter dem sich die Verantwortlichen verstecken. Absurd aber wird die Abstimmung am Sonntag, sollte sich das griechische Volk tatsächlich für die Reformpläne der Geldgeber entscheiden - mit der angekündigten Konsequenz, dass die Regierung daraufhin zurücktritt. In diesem Fall wäre die Frage zu beantworten, mit wem die Rettungspakete in gebotener Eile dann verhandelt werden können.

Unberechenbarkeit ist keine Willkür, wie sie beispielsweise vielen Fürsten bis ins 19. Jahrhundert hinein zu eigen war. Unberechenbarkeit ist auch kein Zeichen mangelnden Geistes oder fehlenden politischen Gestaltungssinns. Vielmehr gewinnt unkalkulierbares Handeln an Kraft in einem Umfeld wie der Union, die sich seit vielen Jahren innerhalb eines Regelwerks mit überschaubaren Spielräumen bewegt.

Gerade dieses Korsett haben die entscheidenden Figuren der griechischen Regierung - neben Alexis Tsipras ist dies der Finanzminister Giannis Varoufakis - von Anfang an mit ihrem unkonventionellen Auftreten durchbrochen. Mochte ihr orthodox anmutender Verzicht auf Krawatten zunächst ein Ausweis von Jugend und Dynamik sein, so wurde schnell deutlich, dass darin die Geste ruhte, Erwartungen nicht zu erfüllen. Und so tauchten beide ohne Schlips bei jeder Gelegenheit und vor jedem Mächtigen auf. Die Botschaft ihres Dresscodes ist simpel: Wir kleiden uns anders, wir sind anders, wir handeln anders.

Das ist ein Selbstzeugnis und zugleich eine Beurteilung des Politik-Establishments. Gegen Alexis Tsipras und Giannis Varoufakis (dieser bisweilen auch als Motorradfahrer) wirkten die etablierten Akteure der Europäischen Union eine Zeit lang steif und sahen mitunter im wahrsten Sinne alt aus.

Wobei irrationales Handeln gerade in Krisensituationen einen weiteren Vorteil hat: Der Unberechenbare ist meist in der Offensive. Er dekonstruiert alle Verhandlungen mit einer Überraschung, auf die andere erst reagieren und neue Antworten finden müssen. Diese Verhandlungsstrategie birgt viele Risiken, aber auch Chancen. Denn die Dekonstruktion bekannter und hinlänglich eingeübter Verhaltens- und Verhandlungsmuster entfaltet kreatives Potenzial. Und dieses wiederum ließe sich nutzbar machen in Situationen, in denen konventionelle Lösungsvorschläge nicht zu befriedigenden Lösungen führen.

Alle Unberechenbarkeit hat Grenzen, weil in politischen Prozessen auch Verlässlichkeit und Vertrauen grundlegend sind. Doch ist unberechenbares Verhalten ein Mittel in Extremlagen; es ist eine Überlebensstrategie. Im Tierreich wird dies als "proteisches Verhalten" bezeichnet. Der Begriff stammt vom griechischen Meeresgott Proteus ab. Der hatte die uschöne Eigenart, seine Weissagungen für sich zu behalten. Und darum wurde er zum Meister der Verwandlung. Er konnte unerwartet die Gestalt des Wassers annehmen, des Feuers oder eines Tieres. Nur mit einer List gelangte man an seine Prophetie.

(RP)
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