Athen Ein Land vor dem Kollaps

Athen · Banken ohne Geld, Apotheken ohne Medikamente, ratlose Menschen: In Griechenland spitzt sich die Lage immer weiter zu.

Die Schlangen vor den Banken sind wieder da. Als das griechische Parlament am Freitag Ministerpräsident Alexis Tsipras seine Zustimmung für Verhandlungen mit den Geldgebern gegeben hat, war es einsam an den Geldautomaten. Die Menschen in Athen hatten sich etwas beruhigt und waren vorsichtig optimistisch. Doch dann haben sich die Euro-Finanzminister nicht darauf einigen können, der Reformliste zuzustimmen. Aus Deutschland ist der Vorschlag gekommen, die griechische Mitgliedschaft im Euro für fünf Jahre ruhen zu lassen.

Es ist spät am Samstagabend. Theodora (50) sitzt mit ihrer Freundin Margarita auf dem Balkon ihrer Eigentumswohnung. Im Hintergrund strahlt die Akropolis. Die beiden Frauen sind seit der Schule befreundet. Gerade hat Theodora ihrer Freundin ein Video vom Ballett-Examen ihrer Tochter gezeigt, da kommt die Nachricht, dass die Euro-Finanzminister ihre Verhandlungen abgebrochen haben. Margarita wird still, starrt auf den Bildschirm ihres Smartphones und wischt die Anzeige langsam mit dem Finger weiter. Gerade hat sie noch gelächelt und Ellis Tanz gelobt, jetzt hat sie eine Furche um den Mund. "Es wäre schon traurig, wenn ich nicht nur mit meinen Landsleuten ärgerlich wäre, sondern am Ende auch noch mit der EU", sagt die 48-Jährige. Sie hat wie Theodora in der Volksabstimmung vor einer Woche Ja gesagt zu den Reformen.

Ratlos ist sie; Staatspleite und Grexit seien sehr nahe. Enttäuscht ist sie natürlich von ihrer eigenen Regierung, das war sie schon vorher, aber jetzt auch von den europäischen Finanzministern, die ihrem Land noch mehr zumuten wollen. Margarita hat Jura studiert; sie arbeitet in der Immobilienbranche. Sie fürchtet, dass die Einschnitte vor allem die gut ausgebildete Mittelschicht treffen werden: "Wir sind die Produktiven in diesem Land."

Ungewissheit und politische Unsicherheit sind die Feinde des Fortschritts. Das spüren auch die Geschäftsleute an der Athener Luxus-Einkaufsmeile Stadiou. Hier liegt die Hermès-Boutique neben Dolce & Gabbana und der Filiale von Brooks Brothers. Auch das alteingesessene Juwelier-Geschäft Zolotas, das weltweit Dependancen hat, macht jetzt weniger Geschäfte. Auf der Straße erzählt man sich, jüngst habe ein reicher Ausländer Ware im Wert von zwei Millionen Euro kaufen wollen. Der Geschäftsführer habe auf das Geschäft verzichten müssen, weil er das Geld nicht sicher verwahren konnte. Die meisten Kunden zahlen bar, die großen Geschäfte haben viel Geld im Tresor und können es nicht auf ihr Konto einzahlen. Die Banken haben ja seit fast zwei Wochen geschlossen.

Ähnlich geht es Ioannis Oikonomakis. Er führt eine Apotheke, die auf der anderen Straßenseite gegenüber von Hermès liegt. Medikamente gehören zur Grundversorgung; die Leute kaufen sie, auch wenn sie mit 60 Euro pro Tag auskommen müssen - so viel geben die Bankautomaten her. Ioannis kann sein Geld nicht zur Bank bringen. Die letzten Schecks, die er seinen Lieferanten ausgestellt hat, musste er zurücknehmen, stattdessen bekommen sie Bargeld. Viel schlimmer aber ist, dass dem Apotheker einige Medikamente ausgehen, vor allem jene, die aus dem Ausland kommen oder die mit Rohstoffen aus dem Ausland in Griechenland produziert werden. Darunter sind Aspirin von Bayer, das Schmerzmittel Voltaren, das Herpes-Mittel Zovirax. Die Lagerbestände lichten sich, Oikonomakis bekommt nur noch ein Drittel seiner normalen Lieferung. Inzwischen akzeptiert er weder Rezepte noch Verschreibungen. Den Sozial- und Krankenversicherungen geht auch das Geld aus, worunter wiederum die Patienten leiden. Dass die Mehrheit der Griechen gegen die Reformen gestimmt hat, kommentiert Ioannis so: "Das ist kein Widerstand, das ist Selbstmord." Er glaubt, dass es so nur noch eine Woche weitergeht. Dann werde das System kollabieren.

Das denkt auch Athanassios, Theodoras Bruder. Er arbeitet in der Marketingabteilung der griechischen Eurobank, einer der relevanten Systembanken. Sein Büro ist nur ein paar Minuten von der Apotheke entfernt. Athanassios weiß, was manche deutschen Medien über die Krise schreiben. Er liest die "Welt", die "Frankfurter Allgemeine" und hat die ZDF-App auf seinem Handy installiert. Ihm ist es wichtig, als Privatmann zu sprechen und nicht als Bank-Angestellter. Vor einigen Jahren hat der Familienvater Deutsch gelernt, um auszuwandern, fand aber weder in Deutschland noch in Österreich einen Job. Seine Frau, eine Ingenieurin, ist seit vier Jahren arbeitslos. Die beiden haben zwei Kinder. Auch wenn die Schalter geschlossen sind, arbeiten die anderen Bankmitarbeiter weiter. "Alles ist normal hier", erzählt der 46-Jährige. Er ist skeptisch, was die Gläubiger betrifft: Die wollten viele Sicherheiten, was einen Kompromiss schwieriger mache. Im Moment bekommt seine Bank Ela-Notkredite. Damit könne man vorerst den Bargeldbedarf decken. Theodora bekommt später einen Anruf von ihrem Bruder: Sie erzählt, dass der Abteilungsleiter versucht hat, Athanassios ein Gespräch mit der deutschen Presse zu untersagen.

Direkt neben dem Etagenhaus, in dem sich Athanassios' Büro befindet, gibt es eine deutsche Buchhandlung. Vor der Tür steht ein Korb mit Grabbelware; eine Ausgabe von "Harry Potter und der Stein der Weisen" liegt darin. Drinnen verkauft Christine vorwiegend deutschsprachige Literatur. Die Schweizerin arbeitet seit 2001 in dem Buchladen. Der Liebe wegen kam sie nach Athen; von ihrem Mann lebe sie mittlerweile getrennt, erzählt sie.

Das Geschäft kann wegen der Kapitalkontrollen im Augenblick keine Bücher aus Deutschland ordern. Gerade laufen die Schulbuchbestellungen für die Deutsche Schule in Athen. "In dieser Jahreszeit ist das unser Hauptgeschäft", sagt Christine. Die Schweizerin aus dem Kanton Luzern lebt gerne in Athen. Sie habe sich hier etwas aufgebaut, sagt sie. Christine hat auch die griechische Staatsbürgerschaft angenommen - deswegen konnte sie im Referendum mit abstimmen. Sie hat für die Reformen und somit für den Verbleib in der Euro-Zone gestimmt. Sie ist der Meinung, dass Ministerpräsident Alexis Tsipras bisher nichts erreicht hat. Wenn die griechische Regierung sich nicht mehr anstrenge, werde es eng mit neuen Hilfen. Sie überlegt, ob sie vielleicht in die Schweiz zurückkehrt - ihre beiden Kinder studieren dort: "Aber das hängt davon ab, wie es hier weitergeht."

(RP)
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