The Ein Platz in der Abendsonne

The · In einer Retortenstadt in Florida müssen die Bewohner mindestens 55 Jahre alt sein. Leben wollen viele von ihnen aber wie Teenager.

Villages "Wieder ein sonniger Tag, wieder ein schöner Tag in den Villages", schmeichelt die Stimme aus dem Lautsprecher. "Sind wir nicht Glückspilze, dass wir hier leben dürfen?" Die Worte sind überall zu hören, an den Terrassentischen von Starbucks, unter der Neonreklame des Kinos, mitten im Park. Hunderte von Lautsprechern, installiert in Blumenkübeln und in den Kronen von Palmen, beschallen die Stadt ununterbrochen mit dem Programm von Daily Sun Radio.

Es ist neun Uhr morgens, die Sonne scheint bei strahlend blauem Himmel, in den Cafés am Ufer eines künstlichen Sees herrscht Hochbetrieb. Der Blick geht auf einen Leuchtturm, der wohl nur deshalb dort steht, damit einen die Kulisse ans Meer denken lässt. Lake Sumter ist in Wahrheit ein bescheidenes Binnengewässer, und auch das Grand Hotel am Strand war nie ein Grand Hotel, auch wenn eine Gedenktafel das Gegenteil verkündet. 1855 habe eine gewisse Katie Belle van Patten, eine Dame von Rang, an dieser Stelle, direkt am Marktplatz, den Grundstein für eine Villa legen lassen, 1882 sei daraus ein Hotel geworden. Alles geflunkert. Eine Katie Belle hat hier nie gelebt, denn noch vor 20 Jahren gab es hier nicht viel mehr als Kuhweiden. Willkommen in der Retortenstadt.

"Welcome to The Villages, Florida's Friendliest Hometown", steht in Riesenlettern am Ortseingang, wo ein blendend weißer Zaun die Grenze zwischen zwei Welten markiert. Vor den Villages ärmliche Baracken, verlassene Felder, verfallene Läden. Hinter dem Schild eröffnet sich eine Landschaft aus Palmenalleen, Blumenrabatten und sanften Rasenhügeln, durch die kreuz und quer Golfkarts surren. Das eingezäunte Paradies ist inzwischen 88 Quadratkilometer groß, größer als Manhattan, und liegt ziemlich genau in der Mitte Floridas. Wer hier eine Wohnung kaufen will, muss mindestens 55 Jahre alt sein. Mittlerweile verzeichnet die Statistik 112.000 Einwohner. "In den letzten drei Jahren waren wir der am schnellsten wachsende Gemeindebezirk der USA", sagt Al Butler und erklärt das Phänomen mit einem Satz, der klingt wie ein Werbeslogan. "Gleichgesinnte haben Spaß daran, Dinge gemeinsam zu tun."

Früher hat Butler für General Electric Gasturbinen gebaut. Heute spielt er dreimal die Woche Golf, außerdem leitet er den Republican Club, was ihn im Moment eher nervt. Die meisten Bewohner der Retortensiedlung wählen Republikaner, und die allermeisten verzweifeln gerade daran, dass ein so vulgärer Mensch wie Donald Trump den Kandidatenwettlauf ihrer Partei gewinnen kann. Butler lässt eher an einen britischen Gentleman denken, wie ein Gentleman alter Schule hat er einen gewissen Sinn für Humor. Warum es weit und breit keinen Friedhof gibt? "Nun, wir sind ein Disneyland für Erwachsene", antwortet Butler mit feinem Lächeln. "Wir wollen jung bleiben, nichts soll uns daran erinnern, dass wir sterblich sind."

Das mit der "freundlichsten Heimatstadt Floridas" ist übrigens ähnlich bizarr: Keiner, der in den Villages wohnt, kam hier zur Welt. "Das Schöne ist, wir sind allesamt Neubürger", sagt Butler und erzählt von den ausgelassenen Partys, mit denen die neuesten Neubürger begrüßt werden. Niemand bleibe lange allein, die Devise laute "Spaß, Spaß, Spaß", man könne glatt wieder zum Teenager werden.

Walt Hoffmann, 80 Jahre alt, ist seit gut einer Dekade ein "Villager" und hat es nie bereut. Er war College-Professor, später Berater, seine Frau Lorraine arbeitete beim Konsumgüterkonzern Procter & Gamble in Cincinnati. Eigentlich hatten beide geplant, zurück nach New York zu ziehen, in die Stadt, aus der sie stammen. Mit 69 ging Hoffmann in den Ruhestand. "Ich hatte Angst vor dem Rentnerleben", bekennt er. "Den ganzen Tag vorm Fernseher sitzen, den ganzen Tag Bücher lesen, darauf wäre es wohl hinausgelaufen." Freunde erzählten von den Villages, bald darauf unterschrieben Walt und Lorraine den Kaufvertrag für ein Häuschen. Walt Hoffmann ist so begeistert, dass er als freiwilliger Fremdenführer die Vorzüge der Senioreninsel preist.

Er sitzt in einem auf alt gemachten Bus, in der Hand ein Mikrofon, "Walt aus Cincinnati, Ohio" aufs olivgrüne Hemd gedruckt. "Wisst ihr, Leute, womit sie mich an der Angel hatten? Mit der Vorstellung, dass du meilenweit ungestört Golfkart fahren kannst." Stolz erzählt er von 60.000 registrierten Golfwägelchen, 55 Golfkart-Tunneln und der längsten Golfkart-Brücke der Welt. Ob man hier auch etwas anderes tun könne als immer nur auf dem Golfplatz zu stehen, will Monica aus Chicago wissen. "Monica, lass mich zurückfragen, wie viele Vereine habt ihr bei euch in Chicago?", erwidert Hoffmann triumphierend. In den Villages gebe es nämlich 1700. Vom Club der Cheerleader über den Club der Weltreisenden bis hin zum Club für Liebhaber portugiesischer Kultur.

Vor einer mit Fliegengitter geschützten Veranda lässt Hoffmann anhalten. Durchs Gitter ist schemenhaft eine Wachsfigur zu erkennen, angetan mit weißem Sakko. Humphrey Bogart. Das dazugehörige Viertel heißt Largo Village, benannt nach Key Largo, einem Hollywoodfilm aus dem Jahre 1948. Die gute alte Zeit. Irgendwann muss die Frage kommen, ob dies nicht ein Ghetto für Alte sei. Aber auch sie kann Hoffmanns sonnigen Optimismus nicht im Geringsten erschüttern. "Ach, wenn uns danach ist, fahren wir eben zu Wal-Mart, und schon treffen wir junge Menschen." Er meint die Kassiererinnen im Supermarkt.

Die Geschichte der Rentnerkolonien, sie begann mit Del Webb, einem Unternehmer, der ein Vermögen scheffelte, als er im Zweiten Weltkrieg Internierungslager für Amerikaner japanischer Abstammung baute. Später ließ er Sun City errichten, eine Altensiedlung in der Wüste Arizonas, die es in den 70er Jahren auf 40.000 Bewohner brachte. In Florida war es Harold Schwartz, ein Versandhändler aus Illinois, der Webb nacheiferte, indem er ein Wassermelonenfeld in ein Camp mit 386 fest montierten Wohnwagen verwandelte. 1983 kam er auf die Idee, nicht nur Campingwagen zu verkaufen, sondern dazu eine Lebensphilosophie. Seine Wohnquartiere nannte er Dörfer, Villages, den Straßen gab er wohlklingende Namen, Pebble Beach Lane, Weeping Willow Avenue, Royal Palm Avenue. Schwartz' 2014 verstorbener Sohn machte daraus ein Milliardengeschäft.

Andrew Blechman, der ein Buch über die Villages geschrieben hat, charakterisiert ihn als kleinen Diktator, autokratisch und öffentlichkeitsscheu. Während Schwartz als exzentrischer Lebemann galt, achtete Morse penibel auf die Einhaltung der strengen Regeln. Die Hecken dürfen nicht höher als 1,20 Meter sein, in den Vorgärten sind Gartenzwerge verboten, wer seine Fassade statt des vorgeschriebenen Ockerbrauns farbig anstreichen möchte, kann es vergessen. Kinder dürfen nicht in der Retortenstadt leben, sie dürfen höchstens 30 Tage im Jahr zu Besuch kommen, nur nach Voranmeldung und mit Gästepass. Ein paar Villagers haben aufgegeben, weil sie sich wie in einer Zwangsjacke fühlten. "Wer nicht happy ist, soll wegziehen", kommentiert Hoffmann achselzuckend, während Blechman in der architektonischen Monotonie den Wunsch nach Stabilität sieht, den Wunsch nach Standards, nach Konstanten in einer sich rasant wandelnden Welt.

Blechman hat ein Ehepaar aus Massachusetts, Nachbarn, bei denen er nicht vermutet hätte, dass sie sich mit einem Rentner-Refugium anfreunden könnten, in ihrer neuen Heimat besucht und ein ernüchterndes Fazit gezogen. "Eine Stadt ohne Kinder ist für mich das Ende der Zivilisation." Was freilich nichts ändert an den optimistischen Wachstumsprognosen. Mindestens ein Siebtel der Babyboomer, zitiert Blechman Experten, kann sich gut vorstellen, in einem Ambiente allein für Alte zu leben. "Wir reden von zwölf Millionen Amerikanern."

Fünf Uhr nachmittags am Lake Sumter. Es gibt Live-Musik und Margarita-Cocktails zum halben Preis. Ein DJ legt alte Platten auf, "Copa, Copacabana", schallt es aus den Lautsprechern, während sich die ersten Pärchen auf die Tanzfläche trauen. Auf jedem der drei Dorfplätze der Villages ist jeden Abend Happy Hour, vier Stunden lang, bis 21 Uhr. "Und morgen, Leute, muss keiner von euch zur Arbeit", ruft der DJ. "Was seid ihr nur für Glückspilze, dass ihr hier leben dürft!"

(RP)
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