London Ein Sieg der Labour Party scheint möglich

London · Die Briten haben das höchste Wirtschaftswachstum der Industrieländer. Trotzdem müssen die Konservativen um den Sieg fürchten. Eine Koalition aus Labour und Liberaldemokraten könnte die Torys in der Regierung ablösen.

London: Ein Sieg der Labour Party scheint möglich
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Wer wird gewinnen: Labour oder die Konservativen? Wenige Tage vor den Parlamentswahlen in Großbritannien ist der Ausgang ungewisser denn je. Nur eines ist sicher: Es wird knapp. Wenn am Donnerstag nächster Woche die Wahllokale schließen, werden sich die Briten auf eine Situation einstellen müssen, die sie eigentlich gar nicht gewollt haben. Traditionell wünscht man sich einen klaren Sieger, eine Partei, die die absolute Mehrheit im Unterhaus hat. Pech gehabt, denn den wird es auf keinen Fall geben. Stattdessen sind alle möglichen Kombinationen denkbar, und am wahrscheinlichsten dürfte eine Minderheitsregierung sein.

Die Konservativen waren im Wahlkampf mit einer starken Botschaft angetreten: Wir haben die Wirtschaft wieder auf Vordermann gebracht und die Staatsfinanzen konsolidiert, wir haben einen langfristigen ökonomischen Plan, lasst uns den Job erledigen, denn nur wir sind kompetent genug. Auf dem Papier scheinen sie recht zu haben. Man war angetreten, als die öffentlichen Finanzen zerrüttet waren -Großbritannien hatte 2010 ein höheres Haushaltsdefizit als Griechenland. Die Regierung hat das Defizit auf unter sechs Prozent drücken können und die Wirtschaft angekurbelt. Das Wachstum ist heute das größte unter den G7-Nationen, die Inflation liegt bei Null, die Arbeitslosigkeit ist auf 5,6 Prozent gefallen und die Beschäftigtenrate so hoch wie nie: Seit 2010 habe man, so die Torys stolz, zwei Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Das sind mehr als 1000 Arbeitsplätze pro Tag.

Nur: Die Botschaft scheint nicht anzukommen. Der Wahlkampf hat an der Situation, die schon seit Monaten herrscht, nicht das Geringste geändert. Die Umfragen bleiben statisch: Ein Drittel der Wähler ist für die Konservativen, ein Drittel will Labour und das letzte Drittel verteilt sich auf rund ein halbes Dutzend kleinere Parteien. Der ökonomische Optimismus der Torys wird vom Bürger nicht geteilt, weil die Lebenswirklichkeit anders aussieht. Von den neu geschaffenen Jobs sind viele Teilzeitarbeitsplätze und schlecht bezahlt. Sogenannte "Null-Stunden-Verträge" grassieren. Rund eine Million Briten hungern und sind auf Tafeln angewiesen. Immer mehr Menschen, klagte der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, seien in einer "wirtschaftlichen Abwärtsspirale" gefangen. Der Grund: Die Leute haben immer weniger Geld, weil die Preise in der Vergangenheit stärker stiegen als die Löhne. Die Privathaushalte, meint Ed Balls, der wirtschaftspolitische Sprecher von Labour, sind im Durchschnitt um 2200 Euro im Jahr schlechter gestellt, als sie es 2010 waren. Das Wort von der "Lebenshaltungskostenkrise", von der Labour spricht, klingt für viele Menschen überzeugender als das "gute Leben", das der konservative Premierminister David Cameron im Fall einer Wiederwahl verspricht. Labour wirbt mit einer Erhöhung des Mindestlohns, dem Einfrieren der Energiepreise, einer Mietpreisbremse und höheren Steuern für Banken und Bessergestellte.

Neben dem Wirtschaftsproblem sind vor allem zwei weitere Themen im Wahlkampf prominent: Immigration und der Nationale Gesundheitsdienst NHS. Die Konservativen hatten 2010 versprochen, die Einwanderung auf unter 100 000 Zuzügler im Jahr zu drücken. Das Ziel hat man grandios verfehlt, allein im vergangenen Jahr lag die Nettoeinwanderung bei fast 300 000. Die rechtspopulistische Ukip schlägt Kapital aus dem Thema und jagt den Konservativen, aber auch Labour in manchen Arbeiterbezirken, Stimmen ab. Der staatliche Gesundheitsdienst ist ein traditionell sozialdemokratisches Thema, schließlich hatte Labour einst den NHS gegründet, der jedermann kostenlos zugänglich ist. Die Konservativen geloben kräftige Finanzspritzen, aber haben mit dem Misstrauen zu kämpfen, dass sie insgeheim eine Privatisierung des NHS planen. Europa dagegen spielt so gut wie keine Rolle in diesem Wahlkampf. Das Thema steht erst auf Platz elf der Liste der Angelegenheiten, die die Wähler beschäftigen.

Der große Trend in dieser Wahl geht weg von den Volksparteien, hin zu den Kleinen. Doch auch wenn Ukip bei rund 13 Prozent in den Umfragen liegt und die Grünen bei acht, werden diese Parteien keine große Rolle im Unterhaus spielen. Ihre Wählerschaft ist zu verstreut und sie können aufgrund des Mehrheitswahlrechts kaum Wahlkreise erobern. Ganz anders sieht die Situation für die "Scottish National Party" (SNP) aus. Ihre Stimmen konzentrieren sich im hohen Norden. Die SNP sieht einem Erdrutschsieg entgegen. Bei lediglich vier Prozent Zustimmung landesweit können sie doch in Schottland mehr als 50 Sitze erobern.

Das wird sie zu Königsmachern nach dem 7. Mai machen. Eine konservative Regierung würde die SNP auf keinen Fall unterstützen. Nach den bisherigen Prognosen bedeutet das: Die Torys werden es sehr schwer haben, genügend Unterstützung für eine Regierung zusammenzubekommen. Labour dagegen hat mehr Optionen, selbst wenn man weniger Sitze als die Konservativen erringen würde. Einen formellen "Deal" mit der SNP hat Labour-Chef Ed Miliband ausgeschlossen, weil schon seit Wochen rechtslastige Zeitungen den Albtraum an die Wand malen, wie die schottischen Nationalisten Labour vor sich hertreiben würden. Aber eine Labour-Minderheitsregierung, womöglich in Koalition mit den Liberaldemokraten, stillschweigend geduldet von der SNP? Das sieht nach dem wahrscheinlichsten Szenario aus.

(RP)
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