Erbil Ein Tag bei den Peschmerga

Erbil · Wer sind die Männer und Frauen, die nun auch mit deutschen Waffen die Terrormiliz IS stoppen wollen? Ein Besuch im Nord-Irak.

Die Totenstille dauert nur Sekunden. Dann feuert das Maschinengewehr wieder - es ist unklar, ob die Peschmerga oder die Islamisten hinter der Brücke schießen. Für Adel Raschid ist das kein Grund, seinen Monolog über Kriegführung zu unterbrechen. Die selbst ernannten "Gotteskrieger" des "Islamischen Staats" (IS), die seinem Freund bei lebendigem Leibe die Nase und die Ohren abgeschnitten haben, lauern in nur wenigen Hundert Metern Entfernung darauf, seinen Posten zu überrennen. "Die warten nur darauf, uns umzubringen", sagt der Oberst. Und weil die Schießerei nicht mehr aufhört, geht er dann doch nach draußen und schaut nach. Drei seiner Männer liegen wachsam in Stellung, es ist wieder ruhig - alles in Ordnung.

In Qwer, einem Dorf eine Autostunde südlich der nordirakisch-kurdischen Provinzhauptstadt Erbil, warten Raschid und seine 17 Soldaten darauf, den Feind aufzuhalten. Die Landschaft ist flach und baumlos, überall liegt Müll. Am Boden wächst kaum ein Strauch, hinter dem irgendwer versteckt mit seinem Gewehr kauern könnte. Am Straßenrand stehen ausgebrannte Autos.

Erst vor drei Wochen haben die Kurden den Ort zurückerobert, den die Dschihadisten zuvor eingenommen hatten. Deswegen sind die geflohenen Einwohner noch nicht zurückgekehrt, überall sind die Spuren der Gefechte zu sehen, die Mauern übersät mit Einschusslöchern. Lediglich das Vieh ist geblieben - und die Peschmerga, so heißen die Soldaten der autonomen kurdischen Region im Nord-Irak. Zwar haben sie diese kleine Schlacht gewonnen, aber noch lange nicht den Krieg gegen die Terrormiliz.

Raschid und seine Einheit haben in einem leeren Backsteinhaus ihr provisorisches Quartier eingerichtet. Es gibt keinen Strom oder fließendes Wasser, draußen sind es an diesem Vormittag 45 Grad heiß, Schatten gibt es nur im staubigen Haus. Vor der Tür steht ein Pick-up mit einem aufgesetzten Maschinengewehr, auf dem Autodach weht die kurdische Flagge in den Farben Rot, Weiß und Grün und der goldenen Sonne in der Mitte. Drinnen liegen alte Matratzen auf dem Boden, zwischen Saft- und Kekspackungen lagern überall in den Zimmern Waffen und Munition. Nirgends gibt es persönliche Gegenstände - weder Familienfotos noch Souvenirs, die an ein Zuhause erinnern. Für Sentimentalität ist hier kein Platz.

Es ist kurz nach zehn Uhr morgens, der Oberst steht mit einem Glas Tee in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand vor einer Irak-Karte, die fast von der Wand fällt. Falls er Angst haben sollte, dann lässt er es sich nicht anmerken - er strotzt vor Selbstbewusstsein. Mit einem Stift zeigt er von der syrischen Grenze aus in Richtung Iran. Insgesamt, so sagt der schnauzbärtige 43-Jährige mit dem weichen Gesicht, teile das autonome Kurdistan nun eine 1050 Kilometer lange Grenze mit der Terrorgruppe im Irak und in Syrien.

"Die irakischen Soldaten und Polizisten sind allesamt abgehauen", höhnt er. Und wären die Peschmerga nicht eingesprungen, "dann wären die Terroristen jetzt hier", er lächelt spöttisch - "sie sind schlicht weggerannt, und das, obwohl sie über moderne Waffen verfügen". Seine Verachtung für die irakische Armee lässt er immer wieder durchblicken. Im Hintergrund sind wieder Schüsse zu hören.

Einige seiner Männer tragen die traditionellen weiten Hosen, die mit einem breiten Gürtel oben zusammengebunden sind, und Tücher, turbanartig um den Kopf geschwungen. Andere besitzen Uniformen, wieder andere eine Mischung aus beidem, aber alle haben sie alte Gewehre russischer Bauart.

Auch wenn sich eine gewisse Schläfrigkeit breitgemacht hat, ist die Spannung spürbar. Zwar ist es gerade ruhig, aber die Dschihadisten könnten jederzeit angreifen. Seitdem die sunnitische Terrorgruppe IS im Juni ihren Vormarsch im Nord-Irak begann, überfiel sie wie im Rausch große Teile des Landes. Ihr rätselhafter Anführer, der Iraker Abu Bakr al Baghdadi, zeigt sich selten öffentlich. Geschätzte 7000 IS-Kämpfer sollen im Irak sein; 1,2 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor ihnen. Vor allem Minderheiten wie die Jesiden, Christen und Turkmenen, aber auch Schiiten fliehen vor dem Wahnsinn, die meisten in den Norden - das Land steht am Abgrund. "Daisch", so lautet die arabische Bezeichnung für den IS, ist ein harter Gegner für die Peschmerga. Sie scheinen die Einzigen zu sein, die die Islamisten noch stoppen können.

Denn diese Dschihadisten sind keine Krieger in Badelatschen, die bei der ersten Eskalation wegrennen. Und sie gelten als eine der reichsten Terrorgruppen der Welt. Der IS soll sich durch Einnahmen aus eroberten Ölfeldern, Entführungen, Enteignungen, Mautzahlungen sowie Spenden von Glaubensbrüdern aus dem In- und Ausland finanzieren.

Die Terroristen sind berüchtigt für ihre Brutalität. "Wir haben noch nie gegen solche Fanatiker gekämpft", sagt Raschid. "Unsere Gegner haben modernste Waffen, Panzer und Raketenwerfer - und sie werden nicht müde." Bei dem IS gebe es viele präzise Scharfschützen, vor allem aus dem Ausland, etwa Tschetschenen, Afghanen, Pakistani sowie Männer aus arabischen Ländern wie Saudi-Arabien und Syrien, die sich mit dem Kämpfen auskennen. Aber auch dermaßen radikalisierte Europäer, die zu allem bereit seien. Den Peschmerga hingegen fehle es an allem. "Wir nehmen jede Hilfe, die wir bekommen können."

Für die kurdischen Kämpfer ist ein eigenes Ministerium in Erbil zuständig; Peshmerga sind Regierungsangestellte. Zu Raschids Einheit gehört auch Irfan. Der 18-Jährige hockt auf dem Pick-up, die Turnschuhe auf den Patronengurten des Maschinengewehrs. Er hat für diesen Fronteinsatz sein Ingenieurstudium unterbrochen. Ob er überhaupt eine Ausbildung an der Waffe habe? "Nein, aber die brauche ich auch nicht. Jeder Kurde sei ein Peschmerga, heiße es im Volksmund. Er, Irfan, wolle für die Freiheit kämpfen, sagt er, auch für die Freiheit seines Glaubens. "Was soll das für ein Islam sein, für den Daisch mordet?", schimpft Irfan. "Mit meinem Allah hat deren barbarisches Verhalten nichts zu tun."

In Qwer flimmert die staubige Luft in der Vormittagshitze, die Sonne steht senkrecht, keine Wolke am Himmel. Die Männer trinken Tee, und rauchen. Immer wieder sind Schüsse zu hören, dann ein lauter Knall, es ist wohl eine Granate explodiert. Irfan schießt in die Luft, Patronenhülsen kullern in den Sand. Er lacht, winkt dem Feind auf der anderen Seite der Brücke zu und zeigt trotzig das Victory-Zeichen.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort