Oslo/Tunis Ein Vorbild für die arabische Welt

Oslo/Tunis · Das tunesische Dialogquartett erhält den Friedensnobelpreis. Die Ehrung soll ein Signal für Syrien, Libyen, Ägypten und den Irak sein.

Reihenweise sind die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens nach dem "Arabischen Frühling" in Chaos und Diktatur zurückgefallen. Eine Ausnahme bildet Tunesien. Vier zivile Verbände erhalten deshalb für ihr erfolgreiches Zusammenspiel als sogenanntes Quartett bei der Errichtung einer pluralistischen Demokratie in Tunesien den Friedensnobelpreis.

Nicht einzeln, sondern ausdrücklich zusammen werden demnach der Dachverband der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverband, die tunesische Menschenrechtsliga und der Anwaltsverband geehrt. Das teilte die seit Anfang 2015 amtierende norwegische Juryvorsitzende Kaci Kullmann Five mit. Mit viel "moralischer Autorität" habe das Quartett eine friedliche Entwicklung organisiert und durchgesetzt.

Der diesjährige Nobelpreis solle die junge Demokratie Tunesiens sichern helfen und eine Inspiration sein für alle, "die Frieden und Demokratie durchsetzen wollen, im Nahen Osten, Nordafrika und der ganzen Welt", sagte die Juryvorsitzende, ohne ausdrücklich auf Syrien einzugehen. Auch in der Mitteilung der Jury heißt es eher allgemein, das Beispiel Tunesien beweise, "dass zivile gesellschaftliche Institutionen und Organisationen eine zentrale Rolle bei der Demokratisierung eines Landes und des friedlichen Transfers von Macht spielen können". Kullmann Five machte jedoch im Interview nach der Bekanntgabe der Preisträger deutlich, dass die Entscheidung vor allem auf die arabische Welt gemünzt war: "Tunesien hat bewiesen, dass säkulare und islamische Kräfte friedlich zum Wohl der Bürger zusammenarbeiten können."

Es geht also nicht in erster Linie darum, eine Gruppe zu ehren, die außerhalb Tunesiens kaum bekannt ist. Es geht ums Prinzip. Tunesien hat wie Ägypten und Libyen nach dem Aufstand gegen die Diktatoren eine Zeit der Polarisierung erlebt. Von der Diktatur jahrelang verdrängte Konflikte, etwa die Frage, welche Rolle die Religion im Staat spielen soll, sind nach dem Sturz des langjährigen autokratischen Herrschers Zine el Abidine Ben Ali im Frühjahr 2011 voll ausgebrochen. Sie auf dem Verhandlungsweg beizulegen, war die wichtigste Aufgabe. In Tunesien haben es Weltliche und Islamisten geschafft, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen - auch weil die Islamistenpartei Ennahda bereit war, die Macht zu teilen.

Im vergangenen Herbst fanden demokratische Wahlen statt, deren Ergebnis von allen wichtigen politischen und religiösen Akteuren anerkannt wurde. Das war nicht selbstverständlich - im Sommer 2013, gut zwei Jahre nach dem Sturz der Diktatur, hatte die Demokratisierung auch in Tunesien vor dem Kollaps gestanden. Politische Morde und soziale Unruhen drohten das Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen wie in Syrien. Der zweite große Rückschlag kam im vergangenen Juni: In einer Hotelanlage des Badeorts Sousse ermordete ein Islamist 38 Urlauber. Die Regierung rief daraufhin den Ausnahmezustand aus.

2013 verhinderte das Zusammenspiel der Organisationen, die nun den Nobelpreis erhalten haben, den Bürgerkrieg. Anfang 2014 trat eine neue Verfassung in Kraft, am Ende des Jahres wurde der weltliche Béji Caïd Essebsi zum Präsidenten gewählt. Auch der Anschlag vom Juni hat das Land nicht dauerhaft ins Chaos gestürzt: Im Oktober wurde der Ausnahmezustand aufgehoben.

Die Botschaft aus Norwegen geht über Tunesien hinaus - vor allem an jene arabischen Länder wie den tunesischen Nachbarn Libyen, wo zwei konkurrierende Machtzentren den Staat ruiniert haben. Oder an Ägypten, dessen Militärs mit den Islamisten nicht in einen Dialog getreten sind, sondern sie wegsperren und verfolgen, um so für eine Friedhofsruhe zu sorgen. Die Botschaft geht auch an den Jemen, ein Land, das sich gerade mit massiver Unterstützung Saudi-Arabiens im Konflikt zwischen schiitischen Huthi-Rebellen und der alten Regierung selbst zerstört. Sie geht schließlich an den Irak, wo die Zentralregierung in Bagdad die sunnitische Minderheit völlig ausgeschlossen und so in die Arme des "Islamischen Staats" getrieben hat.

Das Nobelkomitee hat aus all diesen gescheiterten Fällen eine Lehre gezogen: Nicht Krieg und Unterdrückung, sondern Verhandlungen sind der einzige Ausweg aus der Misere. Insofern ist der Friedensnobelpreis eine Investition in die verbliebene arabische Hoffnung.

Die überraschende Auszeichnung stieß allgemein auf positive Reaktionen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die selbst als Mitfavoritin gegolten hatte, bezeichnete die Vergabe als "ausgezeichnete Entscheidung". Deutschland werde dem "neuen Tunesien" zur Seite stehen. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sagte, das tunesische Quartett habe eine weitere Enttäuschung verhindert: "Diese Ehrung gehört all denen, die den ,Arabischen Frühling' hervorgebracht haben." EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagte, die Tunesier hätten das Recht, stolz zu sein. Der britische Premier David Cameron nannte Tunesien einen "Leuchtturm der Hoffnung". Und sein französischer Kollege Manuel Valls schrieb beim Kurznachrichtendienst Twitter: "Lang lebe die tunesische Demokratie!"

(RP)
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