Ankara Erdogan greift jetzt auch die größte Oppositionspartei an

Ankara · Die sozialdemokratische CHP hat heftige Kritik am Verfassungsreferendum geäußert. Nun soll ihr Chef vor Gericht gestellt werden.

Wer nach dem Sieg des Regierungslagers beim Verfassungsreferendum in der Türkei auf eine gesellschaftliche Versöhnung gehofft hatte, sieht sich getäuscht. Die Massenentlassungen und -verhaftungen mit Notstandsdekreten des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan halten unvermindert an, jetzt folgt der nächste Schlag: Justiz und Regierung gehen gegen die Spitze der größten Oppositionspartei CHP vor.

Zum Wochenbeginn sandte das Justizministerium ein Dossier ans Parlament, in dem es die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 18 Abgeordneten, darunter sieben Mitgliedern der sozialdemokratischen CHP, forderte, einschließlich des Parteivorsitzenden Kemal Kiliçdaroglu, seines Stellvertreters Veli Agbaba und des Fraktionschefs Özgür Özel. Nach türkischen Medienberichten sollen sie wegen diverser Vergehen wie "Beleidigung des Staatspräsidenten" vor Gericht gestellt werden, worauf ein bis vier Jahre Haft stehen. Inzwischen stellte auch die Wahlkommission Strafanzeige gegen Kiliçdaroglu wegen Verleumdung. Der CHP-Chef hatte die Entscheidung kritisiert, Stimmzettel auch ohne offiziellen Stempel mitzuzählen, und hatte die Kommission "Gesetzesbrecher" und "kriminelle Bande" genannt.

Die Maßnahmen erinnern an die erste Welle von Immunitätsaufhebungen im vergangenen Jahr gegen fast die gesamte Fraktion der linken, prokurdischen Oppositionspartei HDP. Die beiden Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas sowie neun weitere Fraktionsmitglieder sind seit Monaten inhaftiert, weil ihnen unter anderem "Terrorpropaganda" vorgeworfen wird. Bereits im Januar hatte die Staatsanwaltschaft in Ankara zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen Kiliçdaroglu publik gemacht. "Soweit bekannt, geht es darin um keine echten Verbrechen, sondern nur um Meinungsäußerungen. Offenbar wollen sie jetzt auch CHP-Abgeordnete ins Gefängnis werfen", sagt Gareth Jenkins, Türkei-Experte des schwedischen Instituts für Sicherheits- und Entwicklungspolitik.

Die Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung ihrer Vorsitzenden stellt die Partei vor ein Dilemma. Die Zustimmung Kiliçdaroglus und der Fraktionsspitze zur Aufhebung der Immunität der HDP-Kollegen im Mai 2016 war innerparteilich als Mitwirkung bei der Selbstentmachtung des türkischen Parlaments kritisiert worden. Nur etwa die Hälfte der Fraktion hatte sie unterstützt. Im Anschluss daran hat die Justiz rund 510 Verfahren gegen Abgeordnete eingeleitet, die sich fast ausschließlich gegen HDP und CHP richten.

Auch diesmal stehen neben sieben CHP- wieder zehn HDP-Abgeordnete auf der Liste der Immunitätsaufhebung. Wie ein Feigenblatt wirkt es, dass mit Saban Disli auch ein Abgeordneter der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP genannt wird. Die Vorwürfe gegen ihn dürften im Zusammenhang mit seinem Bruder Mehmet Disli stehen, einem früheren General, der als Mittäter des Putschversuchs vom Juli 2016 angeklagt ist.

(RP)
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