Istanbul Erdogan überrumpelt sein Land

Istanbul · Statt im November 2019 sollen die Türken bereits im Juni wählen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan tritt die Flucht nach vorne an. Unter dem Druck seines nationalistischen Partners Devlet Bahçeli kündigte Erdogan gestern vorgezogene Neuwahlen für das Parlament und das Präsidentenamt für den 24. Juni an. Noch vorige Woche hatte Erdogan erklärt, er halte am regulären Wahltermin im November 2019 fest. Doch Bahçelis Vorstoß sowie wachsende Risiken in der Wirtschaftsentwicklung haben den 64-jährigen Staatschef offenbar dazu bewogen, im Frühsommer alles auf eine Karte zu setzen. Plötzlich wirkt Erdogan verwundbar. Die Opposition wittert eine Chance, den Präsidenten zu besiegen.

Erdogan sagte nach einem Treffen mit Bahçeli in Ankara, mit der vorgezogenen Neuwahl solle das Land von "Ungewissheiten" befreit werden. Er strebe den Übergang auf das Präsidialsystem, der mit der Wahl vollendet werden soll, so bald wie möglich an. Mit dem neuen System will sich Erdogan weitreichende Vollmachten sichern. Der Syrien-Konflikt und die Wirtschaftspolitik erforderten wichtige Entscheidungen ohne den Druck eines langen Wahlkampfes, sagte er, ohne Einzelheiten zu nennen.

Bahçeli und seine Rechtspartei MHP haben mit Erdogans regierender AKP ein Wahlbündnis geschlossen, das zwei Ziele hat: Die Allianz soll der schwächelnden MHP den Verbleib im Parlament sichern und Erdogan nationalistische Stimmen bei der Präsidentenwahl bringen. Oppositionspolitiker vermuten, dass die Regierung auch die jüngste Militärintervention im syrischen Afrin mit Blick auf nationalistische Wählerstimmen startete.

Doch Bahçeli fürchtet angesichts schlechter Umfragewerte für die MHP und der Herausforderung durch die von MHP-Dissidenten gegründete neue Rechtspartei Iyi Parti, dass seine Partei bis November kommenden Jahres völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwinden könnte. Deshalb hatte Bahçeli am Dienstag zunächst den 26. August als Termin für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl vorgeschlagen. Nun sollen die Wahlen noch früher stattfinden.

Mit dem frühen Wahltermin wollen die beiden Politiker zum einen die Opposition überrumpeln; so hat sich die Iyi Parti, die dasselbe konservative Wählerpotenzial anspricht wie MHP und AKP, noch nicht im ganzen Land etablieren können. Zum anderen dürften Sorgen um die Wirtschaft eine Rolle spielen. Die Lira verliert seit Wochen stark an Wert, das Leistungsbilanzdefizit wächst, und manche Experten warnen vor einer Überhitzung mit potenziell katastrophalen Folgen. Erdogan wolle mit der schnellen Wahl dem Ausbruch einer möglichen Wirtschaftskrise zuvorkommen, sagen regierungskritische Beobachter.

Schon im Jahr 2002 hatte Bahçeli als damaliger Chef einer Koalitionsregierung frühe Neuwahlen durchgesetzt - die mit der Niederlage der Regierung endeten.

(RP)
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