Türkei Erdogan verspielt Atatürks Erbe

Düsseldorf/Ankara · Nach dem gescheiterten Putsch und den darauf folgenden einschneidenden Veränderungen in der türkischen Gesellschaft durch Präsident Erdogan fühlen sich säkulare Türken von der Islamisierung bedroht und fürchten Denunziation. Die Regierung wird zum Regime.

Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) in Uniform.

Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) in Uniform.

Foto: dpa

Tausende Türken, die es sich leisten können, werden in den nächsten Monaten ihre Heimat verlassen und versuchen, anderswo zu leben. Dessen ist sich zum Beispiel Savas Genç, Türkei-Experte und früher Professor an der Fatih-Universität in Istanbul, sicher. Sie haben nach den massenhaften Verhaftungen, Suspendierungen und Entlassungen nicht nur Angst, in die Schusslinie zu geraten. Sie wollen die Beschneidung ihrer persönlichen Freiheit nicht länger hinnehmen.

Die neue Staatsdoktrin kam auf leisen Sohlen daher. In meiner Jugend - den 80er und 90er Jahren - waren Kopftuch tragende oder gar verhüllte Frauen in Istanbul nicht zu sehen. Damals waren Muezzine leise; ich erfuhr, dass sie früher auf Türkisch gerufen haben sollen. Nicht auf Arabisch.

Der Kampf um die Deutungshoheit über die Symbole der Republik hat begonnen

Nach und nach wandelte sich das Stadtbild, allerdings stärker im europäischen Teil Istanbuls. Dort trafen und treffen sich Verhüllte in Gruppen, um über die zentrale Istiklal Caddesi zu spazieren, die zum Taksim-Platz führt. "Sie wollen uns reizen", sagte Tante Zuhal, selbst erfolgreiche Geschäftsfrau, dazu. Nach ihren Auftritten verschwinden diese Frauen wie ein Spuk. In den asiatischen Stadtteilen sind solche Gruppen nicht zu sehen - dort stehen keine Kameras der heimischen und westlichen Medien. Offensichtlich verabredeten die Frauen sich, um etwa am türkischen Nationalfeiertag und am Tag des Kindes die Straßen zu belagern: Der Kampf um die Deutungshoheit über die Symbole der Republik hatte begonnen.

Unverständnis machte sich bei säkularen Türken breit, es folgte ein diffuses Gefühl der Bedrohung: Zu keinem Zeitpunkt waren Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei gefestigt, seit Bestehen der Republik 1923 musste das Gleichgewicht zwischen den Interessen der Volksgruppen im Land gewahrt werden. Sollten die Islamisch-Konservativen die Oberhand gewinnen?

Nun geschah etwas Absurdes: Recep Tayyip Erdogan drehte den Spieß um. Er behauptete, es sei ein Zeichen von Freiheit und Demokratie, dass nun die Frauen, bisher vom laizistischen System unterdrückt, offen ihre Kopftücher und damit ihre Religion zeigen dürften. Wäre der Türkei damals die Aufnahme in die EU gelungen, Erdogan wäre Arbeit erspart geblieben. Er hätte keine Gesetzesänderungen durchsetzen müssen, um das Kopftuch in den Verwaltungen und in den staatlichen Universitäten zu legalisieren.

Europa jubelte ihm zu. Endlich einer, der rechtsstaatliche Prinzipien einführt! Schließlich muss es überall erlaubt sein, seine Religion offen zu zeigen. Ketzerische Frage: Warum eigentlich? Die aktuellen "Allahu akbar"-Schreie auf den Straßen der Städte wecken nun keine diffusen, sondern konkrete Ängste, als Staatsfeind denunziert zu werden. Die Schläge der Regierung richten sich gegen jede Opposition; die Regierung wird so zum Regime.

Verleumdung und Denunziation - der neue Ton der Regierungsmedien

Journalisten, die die Regierungspartei AKP kritisieren, sind inhaftiert oder müssen um ihr Leben fürchten. Die Zeitung "Sabah" veröffentlichte jetzt eine Liste mit Namen, die angeblich Fethullah Gülen unterstützen. Es ist ein Verzeichnis der westlich-links-liberalen Elite: Korrespondenten berichten, dass "FAZ"-Kolumnist Bülent Mumay ebenso in Haft ist wie der Wissenschaftler Cengiz Aktar und der Intellektuelle Sahin Alpay - alles liberale Geister, keineswegs Gülen-Anhänger. Verleumdung und Denunziation scheint der neue Ton der Regierungsmedien zu sein. Erdogan selbst putscht seine Anhänger auf, anstatt mäßigend zu wirken.

In die Zeit nach der AKP-Gründung 2001 fiel es, dass eine meiner Jugendfreundinnen und deren Mutter zum Kopftuch griffen. Es war allgemein bekannt, dass sie dafür eine Rente, bares Geld, bekamen. Das haben sie selbst erzählt. Woher es kam, haben sie nicht erzählt. Inzwischen waren die Lautsprecher an den Minaretten so laut gedreht, dass buchstäblich alle um 5 Uhr aus den Betten fielen. In dem kleinen Dorf auf der Insel, auf der meine Mutter aufwuchs, wurde eigens ein Lautsprecher über den Dächern installiert, gegen den die Bewohner demokratisch protestierten. Sie sammelten Unterschriften und brachten die Liste zur Bezirksverwaltung.

Dort wird sie heute noch liegen. Böse Stimmen behaupten, alle Wünsche der Bewohner würden ignoriert, weil die Insel noch nie AKP gewählt hat und Erdogans Partei ausgerechnet hier ihrem gallischen Dorf gegenübersteht. Die Leitungen des Lautsprechers wurden von Vandalen gekappt und - o Wunder - nie erneuert. Die Religiösen rächten sich. Sie kamen gruppenweise vollverschleiert an den Strand des Dorfes und schwammen in voller Montur im Meer herum.

Während dieser Jahre verschärften sich die Gesetze für Alkoholausschank und -werbung. Die Lizenzen für den Ausschank wurden teuer. Im Vorfeld der Gezi-Proteste im Mai 2013 begann die Verwaltung, gegen das Raki-Trinken am Bosporus vorzugehen - ein erklärtes Hobby der weltmännischen Istanbuler. "Niemand hat mir vorzuschreiben, was ich esse oder trinke", erregte sich Vetter Ümit, der ein Hotel betreibt. Erdogans Anhänger, gut die Hälfte aller wahlberechtigten Türken, sehen das anders. Soll der Präsident ruhig alle Macht auf sich vereinen. Autokratie? Uns doch egal!

Der Fall Ergenekon

Inzwischen hat der Staat Unvorstellbares getan. Unter dem Vorwurf, als Teil eines geheimen Netzwerks namens Ergenekon einen Umsturz zu planen, wurden Dutzende hochrangige Militärs vor Gericht gestellt. "So etwas hatte es in der Türkei nie zuvor gegeben", schreibt die Autorin und Erdogan-Biografin Çigdem Akyol. "Auch die säkulare Opposition und Bürgerrechtler sahen in dem Prozess ein Manöver, um Gegner zum Schweigen zu bringen. Denn alle Angeklagten waren als Erdogan-Kritiker bekannt." Zuvor, im September 2010, war über ein Paket von Verfassungsänderungen abgestimmt worden. Sie schränkten die Macht der Streitkräfte weiter ein. Erdogan begann damals schon, mit den Armeeangehörigen abzurechnen. Erneut spendete der Westen Beifall. Die säkularen Türken warnten: Als Regulativ von Mustafa Kemal Atatürk eingeführt, müsse die Armee unabhängig bleiben. Otto-Normal-Türken verschicken seit Gezi keine kritischen Aussagen zu Erdogan mehr online. Meine Cousine, eine Professorin, ist mit Ausreiseverbot belegt.

Die Spannungen schwappen nach Deutschland, werden sich am Sonntag in Köln entladen. Can Dündar, der verfolgte und mit dem Tod bedrohte Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung "Cumhuriyet", der an einem unveröffentlichten Ort lebt, hat völlig recht: Die zivile Diktatur hat bereits begonnen.

(RP)
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