Analyse Türkische Eiszeit

Düsseldorf · Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind schon lange nur noch eine Illusion. In Europa glaubt kaum noch jemand ernsthaft an eine Mitgliedschaft der Türken. Und Präsident Recep Tayyip Erdogan instrumentalisiert den Zank mit der EU für innenpolitische Zwecke.

EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: Tiefpunkt für Erdogan
Foto: afp, AFP

Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei waren nie einfach, doch nun haben sie ganz offiziell einen neuen Tiefpunkt erreicht. Eine breite Mehrheit im Europaparlament hat angesichts der beispiellosen Welle staatlicher Repression in der Türkei dafür gestimmt, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara auf Eis zu legen. Über eine Wiederaufnahme der Gespräche soll erst entschieden werden, wenn die türkische Regierung den Ausnahmezustand aufhebt, der seit dem Putschversuch im Juli gilt.

Diese Resolution hat indes keine bindende Wirkung; die EU-Kommission, die die Beitrittsgespräche seit 2005 führt, wird also versuchen, die Sache auszusitzen. Das ist politisch allerdings nicht ungefährlich. Meinungsumfragen in den EU-Staaten zeigen, dass ein möglicher Beitritt der Türkei so unpopulär ist wie nie. Bisher fordert jedoch nur der österreichische Außenminister Sebastian Kurz öffentlich einen Abbruch der Verhandlungen. Viele seiner Amtskollegen sagen hinter verschlossenen Türen zwar dasselbe, und auch eine Mehrheit der EU-Regierungschefs hält einen Türkei-Beitritt für politisch nicht durchsetzbar. Aber keiner spricht es aus.

Ein offensichtlicher Grund für das Geschwurbel ist die Flüchtlingspolitik. In Europas Hauptstädten - und ganz besonders in Berlin - ist die Sorge groß, die Türkei könnte die erst im März vereinbarte enge Zusammenarbeit aufkündigen und damit einen erneuten Massenzustrom illegaler Migranten auf die griechischen Inseln auslösen. Der Flüchtlingspakt steht allerdings ohnehin schon auf der Kippe, weil der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die von der EU verlangte Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze strikt ablehnt, die eine Vorbedingung für die von ihm eingeforderte Visa-Freiheit ist. Die wiederum gilt als Gegenleistung der EU für die türkische Flüchtlingshilfe.

Schon seit Längerem instrumentalisiert Erdogan die Spannungen mit den Europäern für innenpolitische Zwecke. Angriffe auf die EU gehören inzwischen zum Standardrepertoire seiner Reden. Der Vorwurf ist immer derselbe: Die Europäer sind arrogant, islamfeindlich, und sie wollen den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der Türkei sabotieren. Erdogan nutzt bei seinen nationalistischen Tiraden den Europa-Frust seiner Landsleute. Hatten sich zu Beginn der Beitrittsverhandlungen vor gut zehn Jahren noch drei Viertel der Türken für eine EU-Mitgliedschaft ausgesprochen, sind heute zwei Drittel dagegen.

"Die EU hält uns seit vollen 53 Jahren hin", schimpft Erdogan, und wenigstens damit hat er nicht ganz unrecht. Allein von der Antragstellung im Jahr 1959 bis zum Beginn von Beitrittsverhandlungen vergingen immerhin 46 Jahre. Zu groß waren in der EU die Bedenken gegen die muslimische, zu große, zu arme und zu fremde Türkei. Erst vor einem Jahrzehnt schien sich das Land politisch und wirtschaftlich so weit entwickelt zu haben, dass Beitrittsgespräche überhaupt sinnvoll erschienen. Strategisch gesehen stand das Interesse einer engeren Anbindung des Nato-Partners Türkei an Europa ohnehin nie infrage.

Doch schon nach gut einem Jahr gerieten die Beitrittsverhandlungen in eine Krise, weil sich die türkische Seite weigerte, Schiffe und Flugzeuge aus Zypern in der Türkei ankern oder landen zu lassen. Daran hat sich bis heute nichts geändert, und auch die unverzichtbare Anerkennung des EU-Staates Zypern verweigert Ankara bis heute. Zwar wurden weitere Verhandlungskapitel eröffnet, aber die Ergebnisse sind mager.

Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind nicht mehr als eine Illusion. Es stellt sich eigentlich nur noch die Frage, wer die Gespräche am Ende platzen lässt. Erdogan wirft der EU vor, sie wolle den Abbruch der Verhandlungen provozieren. Zugleich orakelt er über eine mögliche EU-Volksabstimmung in der Türkei und macht sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe stark - das eine wie das andere wäre gleichbedeutend mit einem Ende des EU-Beitrittsprozesses. Aber offenbar hat der türkische Autokrat die europäische Perspektive ohnehin schon abgeschrieben. Neuerdings liebäugelt er mit einer Orientierung nach Russland und China. Es ist fast, als wolle er alle Befürchtungen seiner Kritiker bestätigen.

(RP)
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