EU-Türkei-Gipfel am Donnerstag Deutschland wird am Bosporus verteidigt

Berlin · Am Donnerstag beginnt der EU-Türkei-Gipfel. Selbst die Kanzlerin spricht von einer "entscheidenden" Wegmarke. Mit all ihrer Kraft wirbt sie für ein europäisch-türkisches Flüchtlingsabkommen. Doch vor allem die Visafreiheit für Türken lehnen viele in der EU ab.

 Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Ankara im Februar.

Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Ankara im Februar.

Foto: dpa, cem moa tba

Die Bundeskanzlerin sparte im Bundestag nicht mit großen Worten, die eher selten zu ihrem Repertoire gehören: Die Flüchtlingsfrage sei die "größte Herausforderung" für Deutschland und Europa, die "unsere ganze Kraft und volle Aufmerksamkeit" erfordere. Der EU-Türkei-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel markiere eine "entscheidende Wegmarke", sagte Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vor dem Gipfel.

24 Stunden vor Beginn des Treffens der 28 Staats- und Regierungschefs und kurz vor Beginn eines Treffens mit ihren Kritikern von der CSU legte Merkel noch einmal ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale: Eindringlich warb sie für den jüngsten türkischen Vorschlag zur Lösung der Flüchtlingskrise. Dieser sei der einzig mögliche Weg für eine gesamteuropäische Lösung der Krise.

Was Merkel nicht sagt

Was Merkel nicht sagte, aber meinte: Dies sei der einzige Weg um zu verhindern, dass ein europäisches Land nach dem anderen seine Grenzen schließt, um sich vor Migranten zu schützen, und die EU der offenen Grenzen damit auf absehbare Zeit Geschichte würde.

Der türkische Vorschlag sieht im Kern vor, dass die Türkei sämtliche Flüchtlinge und nicht nur Wirtschaftsflüchtlinge, die ab einem Stichtag in der EU ankommen, wieder zurücknehmen würde. Im Gegenzug müsste die EU in einem geordneten Verfahren für jeden einzelnen Zurückgenommenen einen anderen Flüchtling abnehmen, der bereits registriert worden ist und einen Asylgrund in der EU nachweisen kann.

Als weitere Bedingungen fordert die Türkei sechs Milliarden Euro von der EU für die Versorgung von 2,7 Millionen Flüchtlingen in der Türkei bis 2018, die Öffnung neuer EU-Beitrittskapitel sowie die Visafreiheit für alle Türken schon einige Monate früher als geplant. Merkel sprach im Bundestag von einem "Geben und Nehmen" mit der Türkei, einem Ausgleich von Interessen. Selbstverständlich werde die EU bei den Verhandlungen auch die Verletzungen von Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei ansprechen. Es sei erkennbar geworden, dass auch der Türkei an einer nachhaltigen Lösung der Flüchtlingsfrage gelegen sei.

Viele befürchten einen Ansturm

Vor allem der Punkt der Einreise ohne Visumspflicht erregt in Europa die Gemüter. Befürchtet wird ein neuer Ansturm von Türken in Europa. Spanien etwa lehnte sie gestern klar ab. Auch die CSU akzeptiert sie nicht. Offensichtlich haben viele nicht mitbekommen oder wieder vergessen, was seit 2013 als EU-Türkei-Aktionsplan läuft und zuletzt am 29. November vergangenen Jahres vom EU-Gipfel noch einmal bestätigt wurde: Wenn die Bedingungen erfüllt sind, sollen die Türken "spätestens im Oktober 2016" volle Visafreiheit erhalten. Merkel betonte, bei dem Wunsch der Türkei gehe es lediglich darum, den Startzeitpunkt auf den 1. Juli vorzuverlegen.

Die EU knüpft die Visafreiheit an insgesamt 72 Vorbedingungen, von denen die Türkei bisher erst etwa die Hälfte erfüllt hat. Neben der Neuausgabe von biometrischen Reisepässen für alle Türken - die erst 2010 eingeführten Ausweise fand die EU-Kommission unzureichend - geht es vor allem um die Umsetzung des 2013 unterzeichneten und 2014 ratifizierten Abkommens mit der EU zur Rücknahme illegaler Einwanderer. Bezweifelt wird, ob die Türkei in der Lage sein wird, neue biometrische Pässe bis Ende Juni zu gewährleisten.

Am seidenen Faden

Ohnehin muss die EU-Kommission in einer Stellungnahme erst einmal darlegen, ob sie wirklich alle Bedingungen als erfüllt ansieht. Danach ist es durchaus möglich, dass die Kommission vorschlägt, die Visa-Erleichterungen für Türken nach und nach einzuführen. Am seidenen Faden hängt Ankaras Verlangen, neue Verhandlungskapitel im Beitrittsprozess zu eröffnen. Wenn Zypern sich querstellt, wird daraus nichts. Die Insel-Regierung will aber von der Türkei spürbares Entgegenkommen im Dauer-Streit etwa um das Ansteuern türkischer Häfen und Flughäfen durch zyprische Schiffe und Flugzeuge.

Um die Rechtswidrigkeit des geplanten Austausches von zurückgewiesenen Flüchtlingen durch bereites in der Türkei registrierte zu verhindern, arbeiten die EU-Diplomaten zudem fieberhaft an Detailregelungen. Eine pauschale Abschiebung ganzer Flüchtlingsgruppen wird nicht für möglich gehalten. Sowohl Türken als auch Griechen müssten die personellen und organisatorischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass jeder Flüchtling ein individuelles Verfahren mitsamt Rechtsweg erhält. Dafür sei enormer logistischer Aufwand nötig.

(mar)
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