Fahrplan für den Brexit So geht der Austritt

London · Theoretisch ist das Ausscheiden eines Mitglieds aus der EU genau geregelt - tatsächlich bedeutet der Brexit juristisches Neuland. Wie genau geht es jetzt weiter? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

 Straßenszene in London: Scheidungsprozess dürfte etliche Jahre dauern

Straßenszene in London: Scheidungsprozess dürfte etliche Jahre dauern

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Der Ernstfall ist da: Erstmals will ein wichtiger Mitgliedstaat die Europäische Union verlassen. Ähnliches haben bisher nur die Grönländer getan, die sich 1985 in einer Volksabstimmung für einen EU-Austritt entschieden hatten. Aber dieser Fall gilt als exotischer Ausreißer von geringer Bedeutung. Mit dem britischen Austrittsbeschluss geht es dagegen ans Eingemachte.

Juristisch gesehen löst das Referendum keinen Automatismus aus. Die Regierung in London könnte das Votum theoretisch einfach ignorieren; bindend ist allein ein Beschluss des Parlaments. Aber was verfassungsrechtlich möglich wäre, scheint politisch völlig abwegig. Britische Politiker aller Parteien haben sich darauf festgelegt, die Entscheidung der Wähler zu respektieren und umzusetzen. Und auch aufseiten der EU wurde vor der Abstimmung klar signalisiert, dass ein Austrittsvotum der Briten dann auch ein entsprechendes EU-Verfahren nach sich ziehen müsse.

Der Weg zu einem Austritt ist in Artikel 50 des EU-Vertrags ("Lissabon-Vertrag") geregelt. Im rechtlichen Sinne entfaltet das Abstimmungsergebnis erst seine Wirkung, wenn die britische Regierung gegenüber dem Europäischen Rat — bestehend aus allen Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer — die britische Austrittsabsicht formell, das heißt schriftlich, erklärt. Dann beginnt die Uhr zu ticken, und die Verhandlungen über ein Austrittsabkommen können beginnen.

Gleichzeitig müssen die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU geregelt werden, darunter etwa der künftige Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Diese komplexen Fragen würden vermutlich in einem eigenen Vertrag zusammengefasst. Beide Abkommen können parallel verhandelt werden, müssen es aber nicht. Die Vorstellungen darüber gehen noch auseinander. Klar ist dagegen, dass am Ende dann sowohl der Europäische Rat als auch das EU-Parlament dem Austrittspaket zustimmen müssen, damit es in Kraft treten kann.

London und Brüssel haben laut EU-Vertrag zwei Jahre Zeit, um die Austrittsmodalitäten auszuhandeln. Mit dieser Fristsetzung soll verhindert werden, dass die EU das Ausscheiden eines Mitgliedstaates verschleppt. Eine Verlängerung des Verhandlungszeitraums ist möglich, dem müssten aber alle EU-Mitglieder zustimmen. Solange die Frist läuft, bleiben die bestehenden Verträge in Kraft, und Großbritannien bleibt EU-Mitglied. An den Beratungen oder Abstimmungen über den britischen EU-Beitritt können die Briten aus naheliegenden Gründen allerdings nicht teilnehmen.

Können sich die Parteien innerhalb des vom EU-Vertrag vorgegebenen Zeitrahmens von zwei Jahren nicht einigen und verständigen sie sich auch nicht auf eine Verlängerung der Verhandlungen, kommt es automatisch zum Brexit. Dieser "wilde" Austritt hätte aber für alle Beteiligten vermutlich so desaströse wirtschaftliche Folgen, dass er als äußerst unwahrscheinlich gilt.

Vermutliche etliche Jahre. Bisher war damit gerechnet worden, dass die britische Austrittserklärung schon beim EU-Sommergipfel am 28. und 29. Juni erfolgen könnte. Doch dafür bedarf es eines formellen Kabinettsbeschlusses. Nachdem Premierminister David Cameron seinen Rücktritt für den Herbst angekündigt hat, ist zunächst offen, wann es wieder eine handlungsfähige Regierung gibt, die den Austrittsantrag einreichen kann und damit den Beginn der Verhandlungen mit der EU auslöst.

Abgesehen davon rechnet niemand ernsthaft damit, dass sich die zahlreichen komplizierten Detailfragen einer Loslösung Großbritanniens von der EU tatsächlich in nur zwei Jahren klären lassen. Was wird etwa aus der Verteilung der EU-Strukturhilfen, die nach zähen Verhandlungen bereits bis 2020 vereinbart wurden? Wer kommt für die Altersversorgung der fast 1200 britischen EU-Beamten auf? Je nachdem, welches Szenario am Ende vereinbart wird, käme dann noch ein Ratifizierungsprozess in den übrigen EU-Staaten hinzu, der weitere zwei Jahre dauern kann. In Brüssel rechnet man daher damit, dass die Scheidungsurkunde frühestens in fünf bis sieben Jahren unterschrieben werden kann. Möglicherweise sogar noch später.

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Einige Brexit-Befürworter haben schon vor dem Referendum das Verfahren nach Artikel 50 des EU-Vertrags infrage gestellt und stattdessen für "informelle Verhandlungen" plädiert. Sie würden am liebsten sehr schnell den verhassten Vorrang von EU-Recht in Großbritannien aufheben und auch schon die ersten Gesetze ändern, noch bevor die Austrittsdetails ausgehandelt sind. Dies käme einem Abschied à la carte gleich, bei dem London schon vorab Fakten schafft. Deswegen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich die EU darauf einlässt, zumal die Vorschriften des EU-Vertrags ja gerade darauf abzielen, ein informelles Verfahren und mögliche Kungeleien auszuschließen.

Würde eine neue Regierung in London dennoch einseitig handeln, könnte die britische EU-Mitgliedschaft umgehend suspendiert werden. Über Nacht würden dann zum Beispiel wieder Einfuhrzölle auf britische Exporte in die EU fällig — es ist kaum vorstellbar, dass das irgendjemand in London riskieren will.

Es wird Gegenstand der Verhandlungen sein, welchen Status Großbritannien anstrebt und die EU dem Ex-Mitglied zugestehen will. Denkbar wäre etwa eine Regelung, wie sie auf Norwegen und die übrigen Länder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), Island und Liechtenstein, zutrifft. Ein solches Assoziierungsabkommen würde den Briten den Zugang zum EU-Binnenmarkt zwar weitgehend erlauben, sie müssten aber das bestehende EU-Recht (und dabei insbesondere auch die umstrittenen Regelungen zur Freizügigkeit) fast vollständig beibehalten sowie auch künftig alle nationalen Gesetze weiterhin den EU-Regeln anpassen. Zudem müsste London auch in Zukunft einen, wenn auch deutlich geringeren, finanziellen Beitrag an die EU leisten, ohne im Gegenzug mitbestimmen zu können. Und sämtliche Freihandelsabkommen der EU, von denen die Briten als Mitglied bisher profitierten, müssten sie durch eigene Abkommen ersetzen. Das würde vermutlich viele Jahre dauern.

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Ganz ähnliche Zwänge wie das EWR-Modell hätten aber auch bilaterale Abkommen nach Schweizer Vorbild. Die Schweiz muss in die EU-Kasse zahlen und ist faktisch ebenfalls gezwungen, EU-Recht in den von den Abkommen betroffenen Bereichen anzuwenden, um Zugang zum EU-Binnenmarkt zu bekommen. Nur für den Fall, dass Großbritannien ein Freihandelsabkommen mit der EU aushandelt, wäre die von den Brexit-Befürwortern propagierte Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit denkbar. Den erhofften freien Zugang zum EU-Binnenmarkt dürften sie auf diesem Weg aber wohl nicht zugestanden bekommen.

Die britischen Abgeordneten, die bei der letzten Europawahl einen Sitz im Europaparlament errungen haben, müssen ihr Mandat bis zum endgültigen Austritt ihres Lands nicht abgeben. Sie könnten nach allgemeiner Auffassung sogar an der Abstimmung im Europaparlament über den Vertrag teilnehmen, der den Austritt Großbritanniens regelt.

Solange die Verhandlungen laufen, kann Großbritannien zwar rechtlich jederzeit vom Brexit zurücktreten. Dazu bedarf es nur einer Entscheidung der britischen Regierung. Dann aber würde dies wie ein Neueintritt nach Artikel 49 des EU-Vertrags gewertet, was Einstimmigkeit der übrigen EU-Staaten voraussetzt und im Übrigen in einigen von ihnen auch eine Ratifizierung durch die nationalen Parlamente erfordern würde. Einfach abblasen lässt sich der Austritt also nicht. Auch wenn die Briten in einem neuen Referendum das mit der EU ausgehandelte Abkommen ablehnen, wäre damit der Austritt keinesfalls hinfällig — es käme dann zum "wilden" Brexit ohne Abkommen.

Die Schotten müssten zunächst erneut über ihre eigene Unabhängigkeit abstimmen. Seit Freitag wird schon konkret über eine neue Volksabstimmung diskutiert. Ein unabhängiges Schottland könnte dann umgehend die EU-Mitgliedschaft nach Artikel 49 des EU-Vertrags beantragen und hätte wohl beste Aussichten, die nötigen Kriterien schnell zu erfüllen.

London ist EU-Nettozahler und zahlte 2014 knapp fünf Milliarden Euro mehr ein, als aus Brüssel überwiesen wurden. Diese Beitragsverpflichtung — wie auch die britischen Zahlungsansprüche — erlischt erst beim Vollzug des Austritts.

(RP)
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