Brexit-Entscheid Warum Referenden gerade so beliebt sind

Berlin · Der 23. Juni könnte zum Schicksalstag für Europa werden. 45 Millionen Briten treffen mit ihrem Brexit-Votum eine Entscheidung, die auch die EU als Ganzes massiv betrifft. Aber warum sind Volksabstimmungen gerade so im Trend?

So läuft die Brexit-Abstimmung am 23. Juni 2016 ab
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Foto: dpa, jhe

Die Frage ist klar. Entweder - oder, nur eines geht: "Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?" ("Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?") Das ist der Wortlaut des Referendums, mit dem die Briten am nächsten Donnerstag darüber entscheiden, ob sie auch künftig noch zur EU gehören wollen.

Auf Englisch sind das 16 Wörter nur, auf Deutsch nochmal eines weniger. Aber von der Antwort auf diesen einen Satz wird viel mehr abhängen als der Brexit: Es ist eine Schicksalsfrage für ganz Europa. Falls sich die Briten tatsächlich verabschieden, wird das Kontinentalbündnis viel mehr verlieren als nur ein einziges Mitglied.

Mehr als 40 Volksabstimmungen hat es in der Geschichte der EU (und ihrer Vorläufer) inzwischen schon gegeben. Aber wichtiger war ein Referendum wirklich noch nie. Ohne Großbritannien - stärkste Militärmacht (zusammen mit Frankreich), zweitgrößte Volkswirtschaft, drittgrößte Bevölkerung - würden Europa und das gesamte europäische Projekt erheblich an Wert verlieren.

Aber darf das eigentlich sein? Dass maximal 45 Millionen Briten - und auch das nur im völlig theoretischen Fall, dass alle Wahlberechtigten tatsächlich ihre Stimme abgeben - für 500 Millionen Europäer entscheiden? Ein kleiner Teil der gesamten Bevölkerung über Europa als Ganzes? Und wie ist es eigentlich mit der Behauptung, dass solche Abstimmungen den "wahren Willen des Volkes" wiedergeben?

Referenden liegen im Trend

Auf jeden Fall liegen Referenden seit einer Weile durchaus im Trend, nicht nur in Europa und nicht nur im "Mutterland" der unmittelbaren Bürgerbeteiligung, der Schweiz. So stimmten zum Beispiel die Neuseeländer in diesem Jahr darüber ab, ob sie den traditionellen Union Jack in ihrer Flagge durch einen Silberfarn ersetzen. 57 Prozent waren dagegen.

Im April entschieden sich dann die Niederländer mit klarer Mehrheit (61,1 Prozent) gegen das EU-Abkommen mit der Ukraine - was auch als Botschaft Richtung Brüssel gewertet wurde. Und schon im Herbst wird es aller Voraussicht das nächste große Referendum in einem EU-Mitgliedsstaat geben: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban will dann seine Landsleute über Flüchtlingsquoten entscheiden lassen.

Referenden sind Zeichen von Unzufriedenheit mit der Politik

Als Grund für diesen Trend hat der Schriftsteller Ian Buruma ("Die Referendumsfarce") eine aktuell erhebliche Unzufriedenheit in vielen demokratischen Staaten mit der Politik ausgemacht. "Die Beliebtheit von Referenden spiegelt das Misstrauen gegenüber den politischen Vertretern wider", sagt der Professor aus New York. "Das grundlegende Problem ist, dass sich viele Menschen von der Politik nicht mehr vertreten fühlen."

Zunächst einmal spricht einiges für mehr direkte Demokratie. Die meisten Experten sind der Meinung, dass der "Werkzeugkasten der Demokratie" dadurch erweitert wird. Noch ein Argument dafür: Wer auch über Sachfragen abstimmen darf, entwickelt normalerweise auch eine engere Bindung an das Gemeinwesen.

Referenden sind bei Demagogen beliebt

Buruma allerdings hält dagegen: "In Referenden geht es um das Bauchgefühl, das leicht manipuliert werden kann. Darum sind sie bei Demagogen beliebt." Die Publizistin Evelyn Roll hat soeben eine Streitschrift ("Wir sind Europa!") veröffentlicht, in der es heißt: "Nationale Referenden in europäischen Angelegenheiten sind Dummheiten, nichts als Komödien des Populismus und der Scheinbeteiligung. Sie beseitigen nicht das Demokratiedefizit der EU, sondern sind ganz im Gegenteil selbst vollkommen undemokratisch."

Einer von denen, die sich im April am meisten über das Ergebnis in den Niederlanden freuten, war der Rechtspopulist Geert Wilders. Er frohlockte sofort über den "Anfang vom Ende der Europäischen Union". Man kann sich ohne Mühe vorstellen, wie Wilders, Marine Le Pen und andere europäische Rechtsausleger am nächsten Freitag über einen Brexit jubilieren würden.

Niemals stimmt das ganze Volk ab

Ein anderes Argument der Gegner: Es ist ein Mythos, dass tatsächlich das gesamte Volk abstimmt. Aus der Wahlforschung weiß man, dass besser gebildete Menschen häufiger an Referenden teilnehmen als schlechter gebildete. Die Unterschicht bleibt öfter fern als die Mittel- und Oberschicht. Meist ist die Beteiligung geringer als bei allgemeinen Wahlen. Zudem stimmen Frauen seltener ab als Männer.

Der Berliner Politik-Professor Wolfgang Merkel spricht deshalb von einer "Schrumpfversion des Volkes", die bei Volksabstimmungen mitmacht. Allerdings vermutet er, dass diese Grundregeln bei der Brexit-Abstimmung nur eingeschränkt gelten werden. "Bei Europa-Referenden ist die Beteiligung relativ hoch. Da geht es um Mitgliedschaft oder nicht, neuer Vertrag oder nicht. Und: Je heftiger die öffentliche Debatte, umso mehr geben ihre Stimme ab."

Eben das ist die Befürchtung von Europa-Befürwortern: dass am Donnerstag Briten zur Wahl gehen, die vor allem daran interessiert sind, den Regierenden in London, Brüssel, Berlin und sonstwo einen Denkzettel zu verpassen. Zwar wissen die Experten, dass es in Volksabstimmungen eine "leichte Tendenz" (Prof. Merkel) gibt, den Status Quo zu wahren, also das zu behalten, was man hat: in diesem Fall die Mitgliedschaft in der EU. Aber ob das am Donnerstag den Unterschied macht?

In Deutschland sind bundesweite Referenden die große Ausnahme - auch wenn nach einer kürzlich veröffentlichten Umfrage fast die Hälfte der Bundesbürger ebenfalls gern über die EU-Mitgliedschaft abstimmen wollen. Grund dafür sind die schlechten Erfahrungen vor dem Zweiten Weltkrieg.

Referenden sind in Deutschland sehr selten

Das Grundgesetz sieht nur zwei Fälle von obligatorischen Volksentscheiden vor: eine bundesweite Abstimmung über eine neue Verfassung nach Artikel 146 und bei der Neugliederung des Bundesgebietes in den betroffenen Gebieten nach Artikel 29. Auf diese Weise kam 1952 Baden-Württemberg zustande. Genauso scheiterte allerdings 1996 die Fusion von Berlin und Brandenburg.

Obwohl in Deutschland ein EU-Referendum gar nicht möglich wäre, wird nach der Meinung der Bundesbürger natürlich immer wieder gefragt: Das britische Institut Ipsos Mori ermittelte im vergangenen Monat, dass 34 Prozent für einen Abschied der Bundesrepublik aus der Europäischen Union wären (zum Vergleich: Italien: 48, Frankreich: 41, Schweden: 39).

Europaweit sähe das Ergebnis allerdings anders aus. Die Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte kürzlich eine repräsentative Studie, wonach 71 Prozent der Europäer in einem gemeinsamen Referendum dafür stimmen würden, dass ihr Land weiterhin EU-Mitglied bleibt. Das wären 355 Millionen Menschen. Zum Vergleich nochmals die Zahl der maximal wahlberechtigten Briten: 45 Millionen.

Politik-Professor Merkel hält aber trotzdem nichts von der These, dass das Brexit-Referendum undemokratisch ist. "Das ist völlig in Ordnung. Wir haben ja keinen europäischen Bundesstaat, sondern ein relativ kompliziertes supranationales Gebilde", sagt der 64-Jährige. "Jeder Mitgliedsstaat muss das Recht haben, den Verein zu verlassen oder nicht. Die Briten natürlich auch."

(felt/dpa)
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