Kommentar Das Urteil ist Gift für Europa

Das Bundesverfassungsgericht kippt die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl. Das ist eine schlechte Nachricht für die europäische Demokratie. Das Urteil zeugt von einer erschreckenden Unkenntnis der europäischen Realitäten.

Das Europaparlament in Zahlen
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Foto: dpa, Patrick Seeger

Denn der Karlsruher Richterspruch stellt eine Einladung an Populisten und Extremisten dar, mit dumpfen Anti-EU-Parolen beim Urnengang Ende Mai Sitze im Straßburger Plenum zu erobern. Schließlich kann ein Mandat bereits mit etwa einem Prozent der abgegebenen Stimmen errungen werden.

Umfragen zufolge könnten EU-Kritiker, Populisten und Extremisten bis zu einem Viertel der Abgeordneten in der neuen EU-Volksvertretung stellen. Das wird das Arbeits-Klima negativ prägen. Und es zwingt die pro-europäischen Parteien der Mitte mehr denn je, eine große Koalition zu bilden, wenn sie sich nicht auf anrüchige Unterstützung vom linken und rechten Rand verlassen wollen. Die Funktionsfähigkeit der Parlaments dürfte so zwar erhalten bleiben.

Doch das EU-Parlament wäre als Akteur im institutionellen Machtkampf mit der EU-Kommission und den Nationalstaaten im Rat geschwächt. Ganz abgesehen vom Imageschaden, wenn sich bei jeder Abstimmung Anti-EU-Meuterer lautstark und medienwirksam zu Wort melden.

Auch Deutschlands Einfluss in der EU wird durch Karlsruhe verkleinert. Von den künftig 96 EU-Abgeordneten aus der Bundesrepublik werden ohne Sperrklausel mehr als mit einer Drei-Proent-Hürde an Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) gehen. Im Umkehrschluss büßen SPD, Union und Grüne wohl Sitze ein. Da aber die Entscheidungen maßgeblich von Konserativen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament bestimmt werden, wirkt sich das machtpolitisch negativ aus, wenn Deutschland in den beiden größten Fraktionen mit weniger Abgeordneten vertreten ist.

Die Marktschreier von AfD und Co. hingegen werden im Politik-Alltag so gut wie keinen Einfluss haben. Denn eine machtvolle und starke Fraktion haben Populisten und Extremisten vor lauter Streit bisher nicht zustande gebracht — und die großen Fraktionen lassen sie bei der Mehrheitsbildung außen vor.

Hinzu kommt: Karlsruhe macht einmal mehr deutlich, dass es die EU-Volksvertretung nicht für ein vollwertiges Parlament hält, weil es anders funktioniert als der Bundestag. In der EU gibt es nicht den Dualismus aus Regierung und Opposition, der das deutsche System prägt. Denn die EU ist kein Bundesstaat, sondern ein Staatenverbund - ohne richtige Regierung.

Daraus den Schluss zu ziehen, eine weitere Zersplitterung sei kein Problem für die Funktionsfähigkeit der EU-Volksvertretung, zeugt von einer erschreckenden Unkenntnis der europäischen Realitäten. Das Europaparlament ist die einzige direkt gewählte EU-Institution. Die Macht der Abgeordneten ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Sie entscheiden über mehr als die Hälfte der Gesetze, die für die Bundesbürger im Alltag relevant sind. Das bedeutet: Die EU-Volksvertretung beeinflusst das Leben der Deutschen mehr als der Bundestag.

Bei der kommenden Europawahl sollen die Parlamentarier zudem maßgeblichen Einfluss auf die Wahl des EU-Quasi-Regierungschefs — des Kommissionspräsidenten — bekommen. Der braucht eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich — und soll von der europaweit stärksten Partei nach der Wahl kommen. Damit nähert sich die EU dem deutschen System an. Europa macht sich auf den Weg, demokratischer und bürgernäher zu werden. Doch genau diesen Prozess erschwert Karlsruhe nun mit seinem Urteil.

(pst)
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