Der Brexit und die EU Deutschlands neue Verantwortung

Berlin · Mit dem Austritt der Briten aus der EU hängt es von Bundeskanzlerin Angela Merkel ab, wie sich die Gravitationsverhältnisse in der Europäischen Union verändern.

 Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt am 24.06.2016 im Bundeskanzleramt in Berlin eine Erklärung zum Brexit ab.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt am 24.06.2016 im Bundeskanzleramt in Berlin eine Erklärung zum Brexit ab.

Foto: dpa, kno

So viel Applaus habe Angela Merkel schon lange nicht mehr in der Unionsfraktion bekommen, sagte hinterher ein Teilnehmer. Das Klatschen der Abgeordneten brandete bis auf die Flure der Fraktionsebene im dritten Stock des Bundestags. Leidenschaftlich hatte sich die Kanzlerin gegen den Vorwurf einer Abgeordneten zur Wehr gesetzt, auch Deutschland und die EU trügen Mitschuld am Austritt der Briten. "Den Schuh ziehe ich mir nicht an", sagte Merkel. Sie versicherte auch: "Wir werden in diesem Europa weiter die Herausforderungen der Zukunft bestehen."

Mit Bekanntwerden der Entscheidung der Briten am frühen Freitagmorgen schaltete das politische Berlin in den Krisenmodus. Am Morgen traf Merkel die Partei- und Fraktionschefs, bevor sie am späten Vormittag im Kanzleramt die anderen 27 EU-Mitglieder dazu aufrief, "keine schnellen und einfachen Schlüsse" aus dem Referendum zu ziehen. Sie erinnerte an die Idee der EU jenseits einer Wirtschaftsunion: "Auch wenn es für uns kaum noch vorstellbar ist, so sollten wir nie vergessen, dass die Idee der europäischen Einigung eine Friedensidee war." Zugleich bedauerte sie den Brexit als "Einschnitt für Europa" und als "Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess".

Für Montag hat Merkel erst EU-Ratspräsident Donald Tusk zum Gespräch eingeladen. Danach will sie sich mit dem französischen Präsidenten François Hollande und dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi beraten. Das Treffen soll auch ein Signal an die anderen EU-Staaten senden, dass die Gemeinschaft nach dem Brexit-Schock selbstverständlich fortgesetzt wird.

Man wird auch erste Gespräche führen, wie der Brexit vollzogen werden kann. Die genaue Festlegung eines Plans will die Kanzlerin aber der Gemeinschaft der 27 überlassen, die sich zum Europäischen Rat am Dienstag und Mittwoch treffen. Für den Dienstag hat Merkel auch eine Regierungserklärung im Bundestag angekündigt. Dort wird sie ihre Signale von Freitag wohl wiederholen, dass sie ein gemeinschaftliches Vorgehen aller EU-Länder und ein geordnetes Verfahren für die Briten wünscht.

Trotz aller Betonung der Gemeinsamkeiten im großen Kreis der 27 stellt sich im politischen Handeln in dieser für den Kontinent schweren Stunde eine Besinnung auf die viel kleineren Ursprünge der Gemeinschaft ein. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) empfängt am Samstag seine Kollegen aus den Gründerstaaten der Europäischen Union. Das sind neben Deutschland: Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Damit betritt Steinmeier als Neben-Krisenmanager die europäische Bühne. Nach der Brexit-Entscheidung besteht damit die Gefahr, dass die EU zum Club der Clübchen wird, wenn nun immer neue Ländergruppen miteinander beraten.

Klar ist, dass sich die Gravitationsverhältnisse in der EU verändern werden. Um welche Achsen sich die Gemeinschaft künftig dreht, hängt stark von den Verbündeten ab, mit denen Deutschland seine Beziehungen nun vertieft. Die Einladungen Merkels an Hollande und Renzi sind ein wichtiger Hinweis. Wäre der Umgang mit der neuen rechtsnationalen polnischen Regierung nicht so schwierig, böte sich auch das "Weimarer Dreieck" aus Deutschland, Frankreich und Polen als neue Achse an. Dies wäre insbesondere mit Blick auf die vielen Osteuropäer hilfreich, die schnell verschnupft reagieren, wenn sich das westliche Kern-Europa über ihre Köpfe hinweg einigt.

Deutschland steht im Mittelpunkt, wenn es um die Neuverteilung der Kräfte in der Gemeinschaft der 27 geht. Zugleich muss Merkel unbedingt den Eindruck vermeiden, dass die Deutschen künftig noch mehr bestimmen in Brüssel. Allerdings werden sie künftig auch mehr zahlen müssen.

Während in der Banken-Krise Merkel und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) gemeinsam den Deutschen versicherten, dass deren Spareinlangen sicher seien, war gestern an diesem für die EU so dramatischen Freitag von Gemeinsamkeit in der großen Koalition nicht viel zu spüren.

Das Krisen-Management klappte nicht sonderlich gut. Hin und Her gab es um die Frage, ob Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel gemeinsam Erklärungen abgeben. Da es die Kanzlerin in solchen Situationen lieber bei einer kurzen Erklärung belässt, während Gabriel gerne und ausführlich Fragen beantwortet und grundsätzlich länger redet als Merkel, ging man getrennter Wege. Der Vizekanzler sorgte dann noch dafür, dass er eine gute Stunde vor Merkel seine Einschätzung abgab.

Verstimmungen gab es zwischen Union und SPD auch in der Frage, wie hart man den Briten nun gegenübertreten muss. Die Kanzlerin sandte in ihrer Erklärung das klare Signal: Die Briten bleiben unsere Freunde. Da hat sie im Hinterkopf, dass Großbritannien Mitglied der Nato, Nachbar, enger Wirtschaftspartner und Verbündeter im Kampf gegen Terror und für Demokratie ist.

Die SPD fordert vor allem Konsequenz für den Austritt. "Es darf jetzt kein langes Hin und Her geben. Großbritannien muss die Konsequenzen aus dieser Entscheidung ziehen und die EU verlassen", sagte Generalsekretärin Katarina Barley, deren Vater Brite ist. Man könne nicht die Pflichten abwählen und die Privilegien behalten.

Die Kanzlerin hingegen will Sensibilität walten lassen: Ziel solle es sein, die Beziehungen Großbritanniens zur EU "eng und partnerschaftlich" zu gestalten. Merkel ist niemand, der einen Plan B in der Schublade hat. Das war in der Flüchtlingskrise nie der Fall und gilt nun auch für den Austritt Großbritanniens. Obwohl die Umfragen immer einen knappen Ausgang des Referendums vorhersagten, wirken weder Berlin noch die EU-Führung auf den Brexit vorbereitet.

Das kann man über SPD-Chef Sigmar Gabriel nicht sagen. Wenige Stunden nach Bekanntgabe des Ergebnisses legte Gabriel gemeinsam mit Europaparlamentspräsident Martin Schulz (SPD) einen Zehn-Punkte-Plan für Europa vor. Darin attackieren die beiden das Agieren der Staats- und Regierungschefs in Gipfelrunden hinter verschlossenen Türen.

Das habe die Europa-Skepsis angefacht. Stattdessen brauche man ein Verfahren, "bei dem offen und transparent diskutiert" werde, heißt es in dem sechsseitigen Papier. Unter der Überschrift "Europa neu gründen" schlagen Gabriel und Schulz etwa vor, dass die Kompetenzen der Europäischen Kommission genauer definiert werden müssten.

(jd)
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