Initiative des SPD-Chefs Die kleine EU von Martin Schulz

Düsseldorf · SPD-Chef Schulz fordert die Vereinigten Staaten von Europa. Wer sich verweigert, soll die Union verlassen. Sein Plan wirkt wie der Versuch eines kühnen Befreiungsschlags, geht aber komplett an der Wirklichkeit vorbei.

 SPD-Chef Martin Schulz (Archiv).

SPD-Chef Martin Schulz (Archiv).

Foto: afp

Martin Schulz, das muss man ihm lassen, ist da ein echter Coup geglückt: Dass ein SPD-Vorsitzender in einer Parteitagsrede mit flammenden Worten die Vereinigten Staaten von Europa fordert, hat es schon ziemlich lange nicht mehr gegeben. Fast 100 Jahre lang, um genau zu sein. Im September 1925 hatte die SPD die Forderung nach der Verwirklichung der Vereinigten Staaten von Europa sogar ganz offiziell in ihr Programm aufgenommen. Sieben Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs begründeten die Genossen ihren Vorstoß damals vor allem damit, man müsse die schädliche ökonomische Rivalität unter den Staaten Europas beseitigen.

Worum es Martin Schulz ging, als er vergangene Woche diesen sozialdemokratischen Ladenhüter erneut ins Schaufenster stellte, ist dagegen nicht ganz so klar. In seiner Rede ging einiges durcheinander. So bezeichnete Schulz die Vereinigten Staaten von Europa als "sinnvolle Ergänzung zu den Nationalstaaten", was freundlich gesagt ausgemachter Unsinn ist. Denn ein europäischer Bundesstaat würde faktisch das Ende der souveränen Nationalstaaten bedeuten. Beides nebeneinander geht nicht.

Mehr Kompetenzen für die EU

Deswegen darf man vermuten, dass Schulz - sichtlich mitgerissen vom eigenen Pathos - eine große Vision bemüht hat, es ihm aber ganz profan um mehr Kompetenzen für die EU in Bereichen geht, die seiner Partei besonders am Herzen liegen, etwa in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Sozialdemokraten in möglichen Koalitionsverhandlungen mit der Union durchsetzen wollen, dass Deutschland entsprechenden Vorschlägen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron folgt.

Die Debatte über eine neue Machtbalance innerhalb der EU-Institutionen ist legitim, und sie ist wichtig. Wirklich problematisch wird es freilich, wenn Schulz im nächsten Atemzug fordert, dass alle Staaten, die in dem neuen Club nicht mitmachen wollen, die EU dann eben verlassen müssten.

Wäre der Mann aus Würselen einer der ewigen EU-Nörgler aus Bayern, man würde diesen Worten nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Aber Martin Schulz war viele Jahre lang Präsident des Europaparlaments. Da ist es schon einigermaßen befremdlich, dass ausgerechnet er sich zu einer Forderung hinreißen lässt, die ein grundlegend schiefes Verständnis der europäischen Integration verrät: Beruht diese doch auf dem freiwilligen Zusammenschluss souveräner Völker. Die Vorstellungen, die man in Berlin oder Paris hat, zählen in der EU prinzipiell nicht mehr als jene in Warschau oder Valletta. Dieses Gleichheitsprinzip ist sicherlich sehr anstrengend. Aber so sind nun einmal die Spielregeln.

Man muss sagen, dass Schulz mit seinem Wunsch nicht alleine steht. Wie er denken nicht wenige, die die quälenden europäischen Blockaden nicht mehr ertragen. Da wird bei manchem anscheinend die Sehnsucht übermächtig, diesen Knoten einfach beherzt durchzuschlagen und mit einer Koalition der Willigen einer vermeintlich goldenen Zukunft Europas entgegenzustürmen. Aber mit welchen Folgen? Einmal angenommen, es käme tatsächlich zum Schwur, dann bliebe vermutlich nur ein ziemlich kleines Kerneuropa rund um Frankreich und Deutschland übrig. Dass eine solche Selbstverzwergung der EU die falsche Antwort auf die Herausforderungen der globalisierten Welt wäre, liegt wohl auf der Hand.

Und es wäre auch nur der vermeintlich leichtere Weg. Natürlich hätte es seinen Reiz, man könnte unverfrorene Trittbrettfahrer wie die Regierungen in Budapest und Warschau, die zwar das Geld aus Brüssel gerne nehmen, zugleich aber auf den Grundwerten der Union herumtrampeln, zu einem klaren Bekenntnis zwingen. Doch damit wiche man auch einer Debatte über das Grundverständnis der EU aus, die dringend geführt werden muss: Welches Europa wollen wir? Welches sind unsere Werte?

Selbst in dieser essenziellen Frage geht heute ein tiefer Riss durch die EU, und es ist offen, ob man die daraus entstehenden Konflikte lösen kann, ohne die Gemeinschaft dauerhaft zu spalten. Klar scheint nur, dass es so wie bisher auch nicht weitergeht. Was schlicht nicht verhandelbar ist, das sind die in der Präambel der europäischen Verträge formulierten Grundwerte wie die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz oder die Pressefreiheit. EU-Mitglieder, die sie dauerhaft verletzen, sollten künftig härter (und schneller!) sanktioniert werden können - bis zum Ausschluss aus der EU.

Diese Debatte dürfte hässlich geraten, aber anders als häufig suggeriert muss sie keinesfalls mit dem Rücken zur Wand geführt werden. Glaubt man den Umfragen, so hat das Vertrauen in die EU, das mit der Euro- und Schuldenkrise auf einen Tiefpunkt gefallen war, in den meisten Ländern seither wieder deutlich zugenommen. Mit ein Grund dafür ist ausgerechnet der Brexit. Der britische EU-Austritt hat offenbar vielen Menschen plötzlich vor Augen geführt, wie wertvoll das geeinte Europa ist. Die anfangs herumgeisternde Vorstellung, weitere Länder könnten dem britischen Beispiel folgen, erwies sich schnell als Hirngespinst.

Keine Frage, die EU muss sich verändern. Und wenn man sie fragt, wünschen sich die meisten Bürger trotz allen Spotts über die Regulierung von Glühbirnen und Ölkännchen sogar mehr als weniger Europa. Allerdings nicht in Form eines wolkigen Bundesstaats, sondern in Form konkreter Zusammenarbeit unter den EU-Staaten: bei der Sicherung der Außengrenzen, bei Asylregeln und Flüchtlingsverteilung, bei der Verteidigung, aber etwa auch bei der Durchsetzung europaweiter Mindestlöhne. Zugegeben, das hört sich weniger grandios an als "Vereinigte Staaten von Europa". Aber vielleicht versuchen wir es erst einmal mit den funktionierenden Staaten von Europa.

(bee)
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