Befürworter und Gegner im Netz Die Lautesten schreien nach dem "Brexit"

London · Falls die Bürger von Großbritannien am Donnerstag tatsächlich für einen Ausstieg aus der EU stimmen, ist das auch ein Sieg der lauten Unzufriedenen. Ein Sieg über die Leisen, die zufrieden sind mit Europa und ein Stückweit auch mit sich selbst, und die alle Warnsignale ignoriert haben.

Brexit: Wie sich Blogs und Webseiten vor dem Referendum positionieren
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Wie sich Blogs und Webseiten vor dem Referendum positionieren

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Foto: http://politicalweb.co.uk/ Grafik: Ferl

Dass die Brexit-Befürworter aktiver und vernetzter, also effektiver kommunizieren, zeigt eine Analyse des Politologen und Kommunikationsforschers Nick Anstead von der London School of Economics. Diese basiert auf einer Auswertung der Social-Media-Beobachter Linkfluence, das 819 britische politische Internetseiten und Blogs untersucht hat ("UK Political Web Observatory").

Wer dort mit wem inner- und außerhalb des eigenen Lagers über Politik debattiert, bilde nicht direkt die Realität ab, räumen die Forscher ein. "Was im Internet passiert, ist aber sehr wohl wichtig für die Politik im echten Leben." Online würden große Teile der Dialoge gestaltet, bevor sie in die klassischen Medien und öffentlichen Diskussionen hinüberschwappten.

Dass unter den 30 als am einflussreichsten identifizierten Websites nur vier eine klare Haltung pro Brexit vertreten, sei nicht notwendigerweise ein gutes Zeichen für einen Verbleib in der EU: "Es kann auch eine Abkopplung der politischen Eliten von weiten Teilen der Bevölkerung bedeuten."

Auch zeigt sich in der Analyse eine gewisse Trägheit der Brexit-Gegner. Im gemäßigten Lager rund um die politische Mitte griffen weniger als 40 Prozent zwischen Januar 2015 und März 2016 die Debatte überhaupt auf — gegenüber 92 Prozent der Online-Akteure, die sich dem rechten Flügel zuordnen lassen. Die Pro-Brexit-Kräfte vom rechten und linken Rand sind gemeinsam stark — und profitieren auch von der Unentschlossenheit der Konservativen.

Dort finden sich diverse prominente Brexit-Befürworter wie Boris Johnson. Leidenschaftliche Verfechter des Verbleibs sind überall rar gesät: Labour-Chef Jeremy Corbyn betrachtet ihn eher als kleineres Übel. Am heftigsten gegen den Brexit stemmt sich der unbeliebte Premierminister David Cameron — synonym mit dem verhassten Establishment.

Gegen etwas zu protestieren war schon immer attraktiver als den Status quo zu verteidigen, ein radikaler Wandel scheint vielen erfolgversprechender als gezielte Kurskorrekturen. "Grenzen zu" oder eben "Raus aus der EU" — solche einfachen Botschaften kommen an bei denen, die Angst haben vor Einwanderern, Jobverlust, dem Islam oder allem auf einmal. Und mit ihnen die Hardliner, die sie vertreten, in Polen, Ungarn, Frankreich, Deutschland und eben Großbritannien.

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Zuerst im Netz, aber eher früher als später eben auch in den Wahlkabinen. Gefährlich ist, dass das mit einem Verfall der Kommunikationskultur durch aggressive Sprache und gezielte Tabubrüche einhergeht. Wolfgang Thierse beklagt eine "Brutalisierung" des Tons und einem zunehmenden Verständnis von Politik als Unterhaltung. Echte Politik sei "schweißtreibend und mühselig", sagt er. "Da geht es um Überzeugungsarbeit, um Kompromisse." Angela Merkel beklagt eine "völlige Überhöhung und Radikalisierung" der Sprache und vermisst "Respekt gegenüber Andersdenkenden".

Populisten aller Lager müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, Mitverantwortung zu tragen an den Attentaten von verbal aufgeheizten Nationalisten auf Flüchtlinge oder Politiker wie Henriette Reker in Köln sowie der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox. Die Gemäßigten müssen sich vorwerfen lassen, blind und taub dafür geworden zu sein, dass gerade über alle Zweifel erhaben scheinende Errungenschaften von Gewaltenteilung und Pressefreiheit bis hin zur Idee Europa leidenschaftliche Fürsprecher brauchen.

(tjo)
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