Die Eurokrise im Jahr 2012 Entscheidungen in höchster Not

Brüssel · Schon vier Jahre hält die Eurokrise den Kontinent in Atem. Zum Ende 2012 hat sich die Aufregung ein wenig gelegt. Das hängt mit Ermüdungserscheinungen der Öffentlichkeit zusammen, aber auch mit mit dem Krisenmanagement der Europäer. "Nicht alles falsch gemacht", urteilen Experten. Doch in den Krisenstaaten tickt eine soziale Zeitbombe.

Was macht die Griechenland-Rettung so schwierig?
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"Es gibt Zeiten, da kann man das Wort Euro-Krise nicht mehr hören." Carsten Brzeski spricht vielen Wählern, Politikern und Journalisten aus der Seele, die wie er genug haben vom Dauerrummel um wachsende Staatsschulden, Rettungsschirme und dramatische Nachtgipfel.

Wie alle Europäer blickt auch der Analyst der ING-Bank zurück auf ein turbulentes Jahr im Zeichen der Krise - das mittlerweile vierte in Folge. "Es wäre zu einfach und zynisch, alles schlecht zu reden, nur weil immer wieder übertriebene Erwartungen geschürt wurden", resümiert Brzeski. "Viele Entscheidungen wurden aus der Not geboren, auf Druck der Märkte. Aber egal wie, letztlich ist einiges passiert."

Dabei stand schon der Jahresauftakt unter einem ungünstigen Stern. Anfang Januar senkt die Ratingagentur Standard & Poor's die Bonität von Frankreich und acht anderen Euro-Ländern, die Märkte reagieren panisch. Bald darauf sagt die Europäische Kommission in ihrer Konjunkturprognose voraus: Die Eurozone wird 2012 in die Rezession rutschen. "Wir sind von einem EU-Gipfel und Marktereignis zum nächsten gehetzt", erinnert sich Brzeski an die folgenden Monate.

Manche Diplomaten sprachen von Erpressung

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bemüht gerne ein Bild aus der Seefahrt, um zu erklären, warum Europas Krisenpolitik so hastig zusammengeschustert daherkommt: "Wir mussten unser Rettungsboot mitten im Sturm zimmern", hält er Kritikern nimmermüde entgegen. Und auch Brzeski wählt am Jahresende einen anschaulichen Vergleich: "Es ist, als ob der Euro-Raum zerschunden aus einer Massenschlägerei herausgekommen ist. Und statt plastischer Chirurgie kamen überall Bandagen, Pflaster und Krücken zum Einsatz, mit denen der Patient zusammengeflickt und vielleicht sogar gerettet wurde."

Wurde er tatsächlich gerettet? Das zu behaupten, wäre verfrüht. Doch das heftig gescholtene Krisenmanagement der EU-Spitzen brachte auch Erfolge, an die vor einem Jahr kaum jemand geglaubt hätte. Im Januar verabschiedeten sie den Fiskalpakt, der strikte Schuldenbremsen und automatische Sanktionen bei Regelverstößen einführt. Der März-Gipfel zog den Startschuss für den Euro-Rettungsfonds ESM von 2013 auf 2012 vor. Ende Juni wurde Kanzlerin Angela Merkel (CDU) von Italien und Spanien dazu genötigt - manche sagen: erpresst - die Tür zu öffnen für direkte Bankenhilfen aus dem ESM und für den erleichterten Zugang reformwilliger Krisenstaaten zum Rettungsschirm.

Evolution statt Revolution - und Draghis Bazooka

Und dann kam jener 26. Juli des "whatever it takes", der Börsenzockern in aller Welt die Kinnlade herunterfallen ließ: Mit seinem Versprechen, die Europäische Zentralbank werde "alles tun, was zum Schutz des Euros notwendig ist", schürte EZB-Präsident Mario Draghi die Hoffnung auf einen baldigen Anleihenkauf der Währungshüter und löste ein wahres Kursfeuerwerk an den Finanzmärkten aus. Sechs Wochen später legte er nach, kündigte sogar ein Kaufprogramm "ohne Limit" an. Auf den nervösen Finanzmärkten kehrte danach Ruhe ein, obwohl die EZB bis heute keine einzige Anleihe erworben hat. Draghi behielt vorerst Recht: Gegen die Löschkanonen seiner mächtigen Feuerwehr wollen die Spekulanten offenbar nicht wetten. Noch nicht.

Abgesehen von Draghis beherztem Eingriff lautete das Credo der Euro-Retter eher Evolution statt Revolution. Gegen viele Widerstände mühte sich eine Koalition aus zehn EU-Staaten zur Transaktionssteuer auf Börsengeschäfte, um den Finanzsektor an der Krisenrechnung zu beteiligen. In Trippelschritten legten die Staats- und Regierungschefs den Grundstein für eine europäische Bankenaufsicht, die nun 2014 an den Start gehen soll. Ein Abwicklungsmechanismus für Pleitebanken ist in Planung, verbindliche Reformverträge und ein Solidaritätsfonds für sparwillige Krisenstaaten ebenfalls. "Merkels Politik des Abwartens und auf Sicht Fahrens scheint gut zu dieser Krise zu passen", sagt Brzeski trocken. Es klingt durchaus anerkennend.

In der Wahrnehmung des Bürgers auf der Straße stehen all diese nervenzehrenden Etappenerfolge freilich im Schatten der dauernden Löscharbeiten am griechischen Brandherd. Nach dem historischen Schuldenerlass der Privatgläubiger im März gab die Eurogruppe zwar das zweite milliardenschwere Rettungspaket frei, doch der Hoffnungsfunke verglimmte schnell. Neuwahlen in Athen ließen den Reformwillen erlahmen, das mit der Troika vereinbarte Anpassungsprogramm sprang aus den Gleisen, die gesetzten Sparziele waren schon bald nicht mehr zu erreichen. Erst nach monatelangem Zögern stimmten die Euro-Partner einer Fristverlängerung zu und tauten zudem die lange eingefrorenen Kredittranchen auf.

Der politische Druck ist gesunken, der soziale Druck wächst

Über einen Euro-Austritt Griechenlands wird inzwischen - anders als im Sommer - kaum noch ernsthaft spekuliert, die Ratingagentur Standard & Poor's belohnte es am Dienstagabend mit einer gleich um sechs Stufen erhöhten Bonitätswertung des Landes. Die Hoffnung bleibt, dass Griechenlands politische Führung den Ernst der Lage erkannt hat. Für die Bevölkerung gilt das schon lange: Rekord-Arbeitslosigkeit, sinkende Renten und Löhne, steigende Operations- und Medikamentenkosten - die Geduld der Wähler ist aufgebraucht.

Massendemonstrationen, Straßenschlachten mit der Polizei und Generalstreiks gehörten 2012 aber längst nicht nur in Griechenland zum Bild. Auch in Spanien, Portugal und Italien protestierten die Menschen zu Hunderttausenden gegen das Spardiktat der Politik. Ob sie sich Brzeskis Fazit anschließen würden, dass die Euro-Krisenmanager in diesem Jahr "keine richtig großen Fehler gemacht haben"? Der politische Druck mag vielleicht gesunken sein, aber der soziale Druck wächst. Und während die existenzielle Krise der Währungszone vorerst gemeistert scheint, hält die humanitäre Krise in den Suppenküchen, auf den Fluren der Arbeitsämter und Krankenhäuser Europas unvermindert an.

Die Europäische Union und der Euro-Club, sie werden 2013 Erfolge brauchen, um ihre schmerzhafte Krisenpolitik zu rechtfertigen. Doch mit Entspannung auf dem Arbeitsmarkt ist ersten Prognosen zufolge schon mal nicht zu rechnen. Brzeski erwartet vielmehr, dass die EZB kommendes Jahr ihre Bazooka auspacken und Spanien zur Hilfe eilen muss. Und er könnte sich vorstellen, dass die reicheren Euro-Staaten direkte Transferzahlungen an schwächelnde Länder wagen, etwa in Form eines "Aufbauprogramms Süd" oder öffentlichen Schuldenschnitts.

Sicher ist sich Brzeski nach dem Krisenmarathon 2012 nur in einem Punkt: "Das nächste Jahr wird wieder mindestens genauso aufregend."

(APD/pst/sap/csr)
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