Eine Analyse des EU-Sozialberichts Europa zerfällt in Arm und Reich

Brüssel/Düsseldorf · Die EU-Kommission warnt in einem Sozialbericht vor einer Spaltung der EU in einen prosperierenden Norden und einen bedürftigen Süden. Die Finanz- und Schuldenkrise hat die Wohlstandskluft dramatisch vertieft.

Europas Krisenherde im Überblick
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Der reiche Norden wird noch reicher, der Süden verarmt. Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, droht Europa der Zerfall. Das ist, verkürzt, der Befund des jüngsten Sozialberichts der EU-Kommission. Für das Jahr 2012 stellt Brüssel einen "besorgniserregenden Trend" und ein "neues Muster" der Spaltung fest.

Es besteht in der Tat Grund zur Sorge, denn sollte sich der Trend verfestigen, wäre das eine historische Wende: Jahrzehntelang konnten die traditionellen Armenhäuser Europas mit tatkräftiger Hilfe der wohlhabenden Nachbarn ihren ökonomischen Rückstand aufholen. Die Angleichung der Lebensverhältnisse war von Anfang an eine der vornehmsten Aufgaben der Europäischen Union und der Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhielt. Für Generationen war die EU ein Garant für eine bessere Zukunft. Neben Frieden war dies das wichtigste politische Versprechen Europas.

Doch nun vertieft sich die soziale Kluft erstmals wieder, und zwar dramatisch. Besonders betroffen sind dabei die von der Schuldenkrise gebeutelten Staaten der Eurozone. Waren die Unterschiede bei den Arbeitslosenraten zwischen den Nord- und Südländern der Währungsunion 2007 nahezu ausgeglichen, entwickelten sie sich seitdem stark auseinander. Zwischen dem Durchschnitt der Nord- und Südländer liegen 7,5 Prozentpunkte. Konkret bedeutet das etwa, dass Familien in Griechenland gegenüber 2009 fast ein Fünftel weniger Geld ausgeben können, während Deutsche, Franzosen und Polen trotz der Krise unterm Strich sogar mehr in der Tasche haben.

Im Teufelskreis aus Rezession und Arbeitslosigkeit

Die Sanierung der Staatsfinanzen mag Fortschritte machen, aber auf die soziale Lage wirkt sich das bisher nicht aus. Wie Griechenland stecken auch andere Südländer in einem Teufelskreis aus Rezession und Arbeitslosigkeit fest. Allein in Athen sind bereits 20 000 Menschen obdachlos. Hilfsorganisationen schätzen, dass jeder Dritte von ihnen früher der Mittelschicht angehörte. Die EU spricht von einer "massiven Armutsfalle", die neben den Mittelmeerländern auch in den baltischen Staaten und den Balkanländern existiert.

Diese Entwicklung birgt enormes politisches Sprengpotenzial. Die Krise droht eine Generation der Hoffnungslosen hervorzubringen, gerade unter jungen Menschen, die in den Krisenländern besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Fast 60 Prozent von ihnen sind in Griechenland und Spanien ohne Job. Sie könnten aufbegehren, aus Frust und Verzweiflung Populisten und Radikalen nachlaufen.

Vor allem die dramatische Entwicklung im Süden hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit auf ein Niveau gestiegen ist, wie man es in Europa seit zwei Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Insgesamt stieg die Quote in der Eurozone auf 11,8 Prozent. Das sind 18,82 Millionen Menschen ohne Job — ein neues Rekordhoch. In allen 27 EU-Ländern zusammen wuchs die Zahl der Arbeitslosen insbesondere aufgrund der schlechten Entwicklung in der Eurozone auf mehr als 26 Millionen an.

Die sozialen Sicherungssysteme würden dadurch zunehmend strapaziert, warnte die EU-Kommission. "Nach einigen Jahren Dauerkrise sind die meisten nationalen Sozialsysteme kaum noch in der Lage, die Einkünfte der Haushalte gegen die Folgen der Krise zu schützen", stellte EU-Sozialkommissar Lazlo Andor fest. Bei leeren Staatskassen seien auch die Mittel etwa für das Arbeitslosengeld immer knapper geworden. Dies wiederum habe negative Folgen für das verfügbare Einkommen der Bürger und damit für den Konsum.

Die Studie der Kommission beschäftigt sich aber auch mit den Gründen dafür, warum eine Reihe von EU-Staaten, allen voran Deutschland, die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise bisher recht gut überstanden haben. Wichtigster Faktor sind dabei offenbar rechtzeitige und energische Arbeitsmarktreformen. Die unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) durchgesetzten Hartz-Reformen werden im Sozialbericht der Kommission gleich viermal als Grund für die gute wirtschaftliche und finanzielle Lage in Deutschland angeführt. "Angemessene Arbeitsmarktreformen und besser gestaltete Sozialsysteme" könnten den Ausstieg aus der Krise beschleunigen, heißt es. Eine freundlich formulierte Forderung nach weiteren Einschnitten. Zugleich macht sich das Kommissionspapier aber auch für die Ausweitung von Mindestlöhnen in den EU-Mitgliedsländern stark. Sie könne dazu beitragen, die gewachsene Kluft zwischen geringen und hohen Einkünften sowie in der Entlohnung zwischen Männern und Frauen zu verringern.

Finanzielle Transfers zwingend nötig

Derartige Maßnahmen auf nationaler Ebene dürften aber allein kaum ausreichen, um die fatale Abwärtsspirale in den am schlimmsten von der Krise betroffenen Ländern zu stoppen. Deren Volkswirtschaften können wohl nur durch massive und vor allem dauerhafte finanzielle Transfers von Nord nach Süd stabilisiert werden. Das könnte etwa über einen Sonderhaushalt geschehen, den die EU-Kommission ebenso wie Ratspräsident Herman Van Rompuy mit Nachdruck einfordert, den Deutschland und die meisten Länder des Nordens aber ablehnen. Auch die Idee einer solidarisch finanzierten europäischen Arbeitslosenversicherung stößt in Berlin nicht gerade eben auf Begeisterung. Der Druck auf die Bundesregierung, sich stärker an der Bewältigung der Krisenlasten zu beteiligen, dürfte aber durch den gestern vorgelegten Kommissionsbericht weiter steigen.

Zumal die zunehmende ökonomische Spaltung Europas auch weltweit Besorgnis hervorruft. Ein von innen einsetzender Zerfall der EU würde auch der globalen Wirtschaft insgesamt schweren Schaden zufügen. So nennt eine ebenfalls gestern vorgelegte Studie des Weltwirtschaftsforums, die auf einer Befragung von 1000 Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und sozialen Organisationen beruht, eine stark zunehmende Ungleichheit bei der Verteilung von Wohlstand sowie eine ausufernde öffentliche Verschuldung als die beiden Hauptrisiken für die Weltwirtschaft. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gilt dabei als ein Auslöser für schwere politische Krisen, und mögliche Staatspleiten werden als brandgefährlich für das weiterhin labile globale Finanzsystem eingestuft. Beide Risikofaktoren kommen derzeit vor allem in Europa zusammen.

(RP/felt/das/csi)
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