Nach dem Referendum in Griechenland Europas Krisen sind Europas Chance

Düsseldorf · Fünf Jahre Griechenland-Krise und das Nein im Referendum am Sonntag zeigen: Das europäische Projekt ist nicht mehr unumkehrbar. Darin aber liegt auch eine Gelegenheit - wenn Europa Mut zu weiterer Integration fasst.

"Das Votum selbst regelt nichts"
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Foto: dpa, yk jak cul

Sprachlich sind europäische Rechtstexte häufig eine Katastrophe. Der zuletzt 2007 geänderte Gründungsvertrag der EU aber ist, zumindest in seinen ersten Sätzen, ein Musterbeispiel der Klarheit: Die gekrönten und ungekrönten Häupter der Mitgliedstaaten, heißt es in der Präambel, seien "entschlossen, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas weiterzuführen" und "den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben". Das ist eine eindeutige Richtung: voran, immer mehr Integration. Vorwärts immer, rückwärts nimmer, hätte das auf Sozialistisch geheißen. Die europäische Währungsunion 1999 war eine Art Kronjuwel dieser Weltsicht.

Für sechseinhalb Jahrzehnte, vom Kriegsende bis etwa 2010, galt die Einbahnstraßen-Gewissheit. Nach fünf Jahren Griechenland-Krise und dem griechischen Referendum am Sonntag, das die Europäer je nach politischer Ausrichtung mit einer Mischung aus Faszination und Grauen verfolgten, lässt sich feststellen: Die alten Einsichten sind hinfällig. Das europäische Projekt ist umkehrbar geworden. Der Grexit war nie so nah wie jetzt, nach dem verheerenden Nein der Griechen. 2012 löste der Satz von Vizekanzler Philipp Rösler, ein Grexit habe seinen Schrecken verloren, noch politische Schreikrämpfe aus - weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Das ist heute unvorstellbar.

Die Euro-Krise ist zweifellos das Heftigste, was die Integrations-Anhänger bisher erleben mussten. Aber, und daraus könnten sie auch dieses Mal neue Energie ziehen, die Europäer sind Rückschläge gewohnt. Selbst unter viel dramatischeren Umständen: 1954, mitten im Kalten Krieg, lehnte das französische Parlament den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ab, die eine gemeinsame Armee der Bundesrepublik, Frankreichs, Italiens und der Benelux-Staaten und langfristig eine politische Union vorsah.

Aus diesem Desaster aber erwuchs nicht nur der Nato-Beitritt der Bundesrepublik ein Jahr später, also die feste Einbindung ins westliche Bündnis, sondern auch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 in Rom: Da man militärisch-politisch nicht weiterkam, verlegte man sich auf die Ökonomie. Der durchschlagende Erfolg gab Europas Gründervätern nicht nur recht - er bereitete auch den Weg zur politischen Integration. Freie Reise mit dem Schengen-Abkommen und schließlich der Euro sind späte Früchte dieser Strategie.

Überhaupt der Euro: Der machte Europa schon Kopfschmerzen, als er noch gar nicht so hieß. Im Vertrag von Maastricht vereinbarte die Europäische Gemeinschaft 1992, bis 1999 eine gemeinsame Währung einzuführen. Es war die Geburt des Euroskeptizismus - die Dänen lehnten die Währungsunion per Referendum ab, die Franzosen bequemten sich nur zu einem sehr knappen Ja. Und das Bundesverfassungsgericht musste 1993 überhaupt erst die Vereinbarkeit von Maastricht mit dem Grundgesetz feststellen. "Voraussetzung der Mitgliedschaft ist", hieß es damals, "dass eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb eines Staatenverbundes gesichert ist."

Die fortgesetzten Klagen gegen die Euro-Politik und Karlsruhes Mahnungen, den Bundestag besser zu beteiligen, zeigen: Der Anspruch ist bis heute nicht eingelöst. Dass die Währungsunion derzeit massiver infrage gestellt wird als je zuvor, verpflichtet zu sorgfältigerer Politik: zu gründlicherem Nachdenken, zu verständlicherer Vermittlung. Europa ist kein Technokraten-Entwurf, sondern ein historisches Geschenk.

Auch das Nein aus Griechenland könnte zu einem historischen Integrationsschritt führen, selbst wenn Athen (vorübergehend) aus der Euro-Zone austräte. Denn was in den 90er Jahren noch undenkbar schien, ist inzwischen Konsens in der Euro-Zone und bei den EU-Staatschefs: Nur eine weitgehende Harmonisierung der Wirtschafts-, Haushalts- und Steuerpolitik in Europa, ein von allen akzeptierter Fiskalpakt, der von supranationalen Gremien überwacht wird, kann Europa als Wirtschaftsraum langfristig wettbewerbsfähig halten und als Gegengewicht zu den aufstrebenden Regionen Südamerikas und Asiens bestehen lassen.

Finanzminister Wolfgang Schäuble hat es neulich in kleiner Runde gesagt: Komme es zu einem Grexit, müssten die Euro-Partner vom nächsten Tag an noch enger zusammenrücken. Dann könnten auch klare Entscheidungen bei der gemeinsamen Sicherheitspolitik, bei der Digitalisierung des Binnenmarkts oder in der Flüchtlingsfrage der Welt signalisieren, dass Europa die Krise als Motor der Integration nutzt. Der Historiker Heinrich August Winkler betrachtet einen Ausstieg Griechenlands daher sogar als Chance. "Die Währungsunion an sich wird durch einen Austritt eher stabilisiert. Sie würde ein Mitglied verlieren, das immer wieder, fast chronisch, Regeln verletzt hat", sagte Winkler dem "Stern". Das ist es, was Merkel meint, wenn sie sagt, Europa könne aus der Krise gestärkt hervorgehen. Der von ihr erdachte Fiskalpakt ist ein Beispiel, dem weitere folgen werden. Das griechische Drama wird dazu führen, dass nationale Parlamente, etwa in Steuer- und Wirtschaftsfragen, eine EU-weite Aufsicht werden akzeptieren müssen.

"Wir sind zu unserem Glück vereint", heißt es in der europäischen Erklärung zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge 2007. Das richtige Verständnis für das Projekt Europa ist da, auch wenn man noch längst nicht immer danach handelt. Wenn dieses Verständnis weiter wächst, könnte sogar die Euro-Ablehnung der AfD ein historisches Verdienst gehabt haben, weil sie den Regierenden Beine machte.

Und deshalb ist Griechenlands Nein eine gute Gelegenheit für Europa.

(RP)
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