"Grexit" verhindert Einigung nach 17 Stunden

Brüssel · In einer Marathon-Sitzung haben die Regierungschefs den "Grexit" verhindert. Die Verhandlungen standen kurz vor dem Scheitern.

 Journalisten warten in Brüssel beim EU-Sondergipfel auf Ergebnisse der Staats- und Regierungschefs der Eurogruppe.

Journalisten warten in Brüssel beim EU-Sondergipfel auf Ergebnisse der Staats- und Regierungschefs der Eurogruppe.

Foto: dpa, cs

Mit einem Baguette unter dem Arm schleicht Thomas Wieser die Rue Cortenbergh entlang. Es ist kurz nach neun Uhr am Montagmorgen, und der Euro-Krisengipfel zu Griechenland ist gerade zu Ende gegangen. Der Österreicher leitet die Arbeitsgruppe der Finanzstaatssekretäre der Euroländer, hat seit Wochen kaum geschlafen und auch in dieser vielleicht einmal historisch genannten Nacht immer neue Kompromissentwürfe aufgesetzt. Nun schlappt er nach Hause, zufrieden oder gar glücklich sieht er freilich nicht aus. "Wenigstens hat es eine Einigung gegeben", sagt Wieser.

Noch drei Stunden zuvor war nicht einmal sicher, ob Europa überhaupt zusammenbleibt. Wutentbrannt haben sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der griechische Premier Alexis Tsipras die Verhandlungen im Kreis mit Frankreichs Staatschef François Hollande und EU-Ratspräsident Donald Tusk verlassen. Der Pole pfeift die beiden Streithähne zurück und insistiert, wie Beobachter später berichten werden: "Ihr könnt jetzt nicht einfach gehen. Wir können hier heute nicht ohne Einigung rausgehen."

Das, was auf dem Tisch liegt - der am Samstagmorgen auch Tusk noch unbekannte Plan von Wolfgang Schäuble -, ist eigentlich überhaupt nicht einigungsfähig: Die erste Option sieht im Gegenzug für neue Kredite härteste Bedingungen vor, die allem widersprechen, wofür Tsipas angetreten ist; die zweite ist der "Grexit" oder, wie es in der Vorlage heißt, "eine Auszeit vom Euro".

Fassungslosigkeit macht sich unter Diplomaten und Journalisten breit, als in der Nacht klar wird, dass Schäubles Vorschläge, von deutscher Seite am Vortag noch als interne Ideen ohne Relevanz für die Gipfeldebatte verkauft, Gegenstand der Beratungen sind. Reporter fragen ihre deutschen Kollegen, was in Berlin nur los sei, dass von dort solche Vorschläge kommen. "Wie in aller Welt soll ich das meinen Lesern erklären?", fragt eine Griechin.

"Wenn das Europa ist, dann bin ich nicht mehr Europa"

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Philippe Lamberts aus Belgien hält das besagte Papier in den Händen. Der Fraktionschef der Grünen im Europaparlament ist einer, der sich als "Föderalist" bezeichnet und immer noch von den Vereinigten Staaten von Europa träumt. Jetzt steht er mitten in der Nacht im Pressesaal des Brüsseler Ratsgebäudes und empört sich: "Wenn das Europa ist", sagt er, mit den vier Seiten des künftigen Gipfelbeschlusses wedelnd, "dann bin ich nicht mehr Europa. Europa ist heute Nacht kaputtgegangen."

Es ist sein zentraler Kritikpunkt, der auch die europäischen "Chefs" acht Stockwerke über ihm die längste Zeit beschäftigt: Die Bundesregierung fordert von Griechenland, Staatsvermögen im Wert von 50 Milliarden Euro an einen Privatisierungsfonds in Luxemburg zu übergeben, der es peu à peu verkaufen soll - mit den Erlösen soll Athen die neuen Schulden zurückzahlen.

"Flughäfen, Seehäfen, Autobahnen, Immobilien - das soll jetzt von Profis verkloppt werden", heißt es dazu mehr als lapidar in deutschen Delegationskreisen. Andere Länder dagegen sind schockiert. "Das ist ein Eingriff in die nationale Souveränität, der nie zuvor von einem europäischen Land verlangt wurde", so ein EU-Diplomat.

Angela Merkel wird später erklären, warum Deutschland dies neben vielen weiteren Athener Parlamentsbeschlüssen und rigoroser Troika-Überwachung trotzdem verlangt hat. "Schwer erschüttert" sei das Vertrauen zu Tsipras und "Papier geduldig". Nur angesichts dieser Sicherheiten könne sie "voller Überzeugung" dem Bundestag eine Zustimmung zu dem dritten Kreditpaket über mindestens 80 Milliarden Euro empfehlen.

Auf die Frage, was sie denn vom Vergleich mit dem Versailler Vertrag halte, antwortet die Kanzlerin kühl: "An historischen Vergleichen beteilige ich mich nicht." Zwar spricht sie von "harten Bedingungen", doch hält sie sie im Vergleich zu anderen Krisenländern auch für "nichts Besonderes".

Dreimal muss die Runde unterbrochen werden

Eine unglaubliche Untertreibung. Denn die Währungsunion ist tief gespalten in der Frage, ob solche drakonischen Auflagen dem letzten Rest Glauben an die europäische Demokratie nicht den Todesstoß versetzen. Dreimal muss die große Runde aller 19 Staats- und Regierungschefs der Währungsunion unterbrochen werden.

Die Viererrunde Merkel-Hollande-Tsipras-Tusk spielt dabei die entscheidende Rolle. Merkel wird die Verhandlungsatmosphäre später als "für die vielen Stunden sehr sachlich" bezeichnen. Im Umfeld von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker wird sie hingegen als "ruppig" beschrieben.

Hollande: "Ich habe Plan B verhindert"

Frankreichs Präsident tut sich schwer am Montagmorgen, das Ergebnis als Erfolg zu verkaufen. "Ich habe Plan B verhindert", sagt Hollande und berichtet, dass das Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion jetzt eine Realität wäre, "wenn es nur nach einem Land gegangen wäre". Er erwähnt Deutschland in diesem Zusammenhang nicht direkt, doch ist allen im Raum klar, dass Merkel dazu bereit gewesen sein muss. Früh in der Nacht schon hat Hollande akzeptieren müssen, dass es Plan A nur mit dem Privatisierungsfonds geben wird. Gegen 1.30 Uhr verschwindet die "Auszeit vom Euro" aus den Klammern des Textentwurfes.

Tsipras aber kämpft weiter. Nachdem Ratschef Tusk ihn und Merkel um kurz nach sechs Uhr morgens an den Verhandlungstisch zurückbeordert hat, wird weiter gerungen. Zwei Knackpunkte beim Privatisierungsfonds gibt es noch - und Merkel nimmt einige Abstriche an ihrem radikalen Plan in Kauf. Der Fonds muss nicht in Luxemburg, sondern kann in Griechenland angesiedelt werden.

"Die nationale Souveränität Griechenlands bleibt damit gewahrt", behauptet Hollande später. Zudem sollen 12,5 Milliarden Euro, also ein Viertel des geplanten Erlöses, für Investitionen in Griechenland verwendet werden dürfen. Schäuble und Merkel haben ursprünglich alles für die Schuldenrückzahlung verwenden wollen.

Als sie das zusagt, schlägt Tsipras ein. Es ist 8.20 Uhr - knapp 17 Stunden sind vergangen, seit die Staats- und Regierungschefs ihre Gespräche begonnen haben.

(RP)
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