Schuldenkrise in Griechenland Wut auf Tsipras, Wut auf Deutschland

Athen · Unsere Autorin hat in Athen Menschen getroffen, die die Krise täglich erleben. Ein Erfahrungsbericht aus einem verunsicherten Land.

"Ochi" — das griechische Wort für Nein empfängt mich in Athen. Auf dem Weg vom Flughafen lese ich es das erste Mal auf einem Plakat am Straßenrand, kurz nachdem das Taxi die Autobahn verlassen hat und an der ersten Ampel hält. Trotzig klingt es, triumphierend bisweilen. Hinter jeder Ecke kann es lauern: als Graffiti an einer Hauswand oder auf dem Titel einer Zeitung am Kiosk. "Nein" —das war die Aussage von 60 Prozent der Griechen zu den Reformforderungen der europäischen Geldgeber.

Das Taxi fährt mich zu Theodora, meiner Gastwirtin. Sie wohnt in einem Viertel nahe der Innenstadt. Die Akropolis ragt hinter ihrem Haus hervor. Theodora ist 50 Jahre alt, sie lebt mit ihren drei Kindern in einer Eigentumswohnung in einem Mehrfamilienhaus. Ihre älteste Tochter Lydia ist 19 Jahre alt und studiert Psychologie. Elly, zwei Jahre jünger, hat gerade die Schule abgeschlossen, möchte Balletttänzerin werden und übt acht Stunden am Tag. Max, mit 13 Jahren der Jüngste, ist für ein paar Tage bei seinem Vater, von dem die Gastwirtin sich vor zwei Jahren trennte.

Theodora ist eine Frau, die keinen Hehl aus ihrer Meinung macht. Es dauert keine halbe Stunde, da redet sie nur noch über Politik. Wenn sie könnte, würde sie Alexis Tsipras auf dem Syntagma-Platz öffentlich hängen lassen, erzählt sie beim Abendessen auf dem Balkon. Lydia sitzt daneben und pflichtet ihrer Mutter bei. "Tsipras ist ein Idiot", sagt die 19-Jährige. Dann fragt sie mich herausfordernd, was meine Meinung dazu ist.

Ich antworte ausweichend, dass ich schwanke, dass ich mir noch kein Urteil darüber bilden möchte, sondern erst einmal nur beobachten will. Theodora hat beim Referendum mit "Ja" gestimmt. Sie findet, dass es besser ist, im Euro zu bleiben und die Reformen mitzumachen. Zu laut darf sie das nicht auf der Straße sagen, das hat man ihr übel genommen, erzählt sie. Aber Theodora findet, dass sie in einem freien Land lebt und ihre Meinung sagen darf. Sie schimpft nicht über die Deutschen, die Franzosen oder andere europäische Regierungen. Sie sagt, die griechischen Politiker seien Schuld an der Krise.

Theodora arbeitet als Therapeutin, sie hat eine Praxis für Bio-Feedback. Diese liegt gegenüber der Wohnung. Dort besuche ich sie am nächsten Tag. Früher hatte Theodora täglich zehn oder zwölf Patienten, jetzt kommen nur noch etwa drei. Die meisten Menschen haben nicht genug Bargeld, um sie zu bezahlen. Mit den 60 Euro, die sie pro Tag zur Verfügung haben, begleichen sie lieber die Stromrechnung.

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In der Praxis sitzen Helen und ihr Mann Christos. Beide sind Rentner. Sie warten auf ihren Sohn Nicholas, der gerade in Behandlung ist. Die beiden haben Nicholas aus Russland adoptiert, als er ein Jahr alt war. Über seine Zukunft in Griechenland macht Helen sich mittlerweile große Sorgen. Sie erzählt auch von ihrer 91 Jahre alten Mutter, die 40 Jahre lang gearbeitet hat und jetzt seit zehn Tagen von nur 120 Euro im Monat leben muss. Sie ist wütend, vor allem auf Deutschland. Deswegen hat sie mit "Nein" gestimmt. Sie ist gegen die Reformvorschläge aus Brüssel, sie ist auch gegen die deutsche Regierung. "Niemand hat das Recht, über uns zu bestimmen", sagt sie und weint.

Theodora möchte zur Bank und in den Supermarkt gehen. Es ist kurz vor drei Uhr am Nachmittag, die heißeste Zeit des Tages. Theodora geht immer um diese Zeit zum Bankautomaten. Dann seien die Schlangen nicht so lang. Aber erst laufen wir zum Supermarkt. Die Regale sind voll, es gibt Reis und Toilettenpapier genug. Der Reis kommt aus China. Theodora kauft Mehl, dunkle Schokolade, Zucker, Obst, ein paar Tomaten, Milch und Toastbrot.

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Foto: afp, alb

30 Euro gibt sie aus. Sie zahlt mit EC-Karte. Nun könnte sie eigentlich nur noch 30 Euro vom Bankautomaten abheben. Denn die 60-Euro-Grenze gilt für jeweils ein Konto pro Tag. Theodora hat noch ein zweites Konto. Aber: Die 20-Euro-Scheine sind überall knapp geworden. Das heißt, dass die Griechen mitunter nur 50 Euro abheben können. Die Automaten spucken nur 50- oder 20-Euro-Scheine aus.

Theodora ist die fünfte in der Schlange. Alle warten ruhig, bis sie an der Reihe sind. Die Frau vor uns flüstert mir auf Englisch zu: "Wir überleben — so oder so."

Theodora sammelt ihr Bargeld. Bis vor einer Woche hat sie noch Kleidung und Schuhe bei Ebay bestellt, damit sie über ihre Kreditkarte mit Paypal bezahlen kann. Doch jetzt funktioniert das nicht mehr, denn es darf kein Geld ins Ausland transferiert werden. Morgen muss Theodora 240 Euro für eine Versicherung zahlen. Das Geld hat sie im Portemonnaie. Danach muss sie wieder für die nächste Rechnung sparen.

(RP)
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