EU-Ratspräsident Van Rompuy im Interview "Moskau hält seine Versprechen nicht"

Brüssel · Der EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Ukraine-Krise, über die Stimmung vor der Europawahl und über das Geschacher um den nächsten Kommissionspräsidenten.

 Seit 2009 ist Van Rompuy EU-Ratspräsident.

Seit 2009 ist Van Rompuy EU-Ratspräsident.

Foto: ap

Herr Van Rompuy, Sie bekommen nächste Woche den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen verliehen. Welche Rolle spielt der Ukraine-Konflikt bei diesem Festakt?

Van Rompuy Ich habe die Regierungschefs der Ukraine, Georgiens und Moldawiens als Laudatoren eingeladen. Sie sollen darüber sprechen, warum sie an Europa glauben und warum sie engere Bande mit der EU wollen. Das ist ein starkes Signal. Wir werden beim EU-Gipfel im Juni Assoziierungsabkommen mit Georgien und Moldawien unterzeichnen. Ein neuer ukrainischer Präsident dürfte zudem bald den noch fehlenden Handelsteil des Abkommens mit der EU unterschreiben. Wir alle wissen: Diese Verträge sind nicht der letzte Schritt der Kooperation.

Russlands Präsident Wladimir Putin dürfte das als Bedrohung und Provokation empfinden.

Van Rompuy Ich habe Wladimir Putin beim letzten Treffen deutlich gesagt, dass die Europäische Union keinerlei geopolitische Ambitionen hat. Denn dann würden wir Assoziierungsabkommen nicht an Werte und Reformen knüpfen, sondern sie ohne Bedingungen schließen. Wir machen unseren Partnern das Leben nicht einfach, so wie Putin, der Kiew 15 Milliarden Euro ohne Konditionen versprach, um Viktor Janukowitsch von der Unterschrift unter das Abkommen mit der EU abzuhalten. Unser Ansatz ist komplett anders als der von Putin: Es gibt kein Entweder-oder - keine Entscheidung zwischen Ost und West. Es ist im Interesse der EU, dass Länder wie die Ukraine gute Beziehungen zu Russland haben. Aber Moskau darf diese Staaten nicht daran hindern, gleichzeitig auch ihre Beziehungen zur EU zu vertiefen. Es geht darum, den Willen der Menschen in der Ukraine und anderswo zu akzeptieren. Und sie wollen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.

Wird es Wirtschaftssanktionen geben, wenn Putin die Wahlen in der Ukraine stört?

Van Rompuy Schon die bisherigen Strafmaßnahmen treffen Russland stärker, als es gedacht hat, die Wirtschaft rutscht in die Rezession. Wenn Wladimir Putin die Ukraine weiter destabilisiert - dazu zählt auch eine Störung der Wahlen -, dann werden wir weitere Sanktionen verhängen. Aber Sanktionen sind kein Selbstzweck, kein Instrument zur Bestrafung oder Vergeltung. Sie sind ein Mittel, um Russland zurück an den Verhandlungstisch zu bekommen. Denn es kann keine militärische Lösung des Konflikts geben. Allerdings ist das Vertrauen in Russlands Willen, zu einer politischen Lösung beizutragen, nicht allzu groß. Denn Moskau hält seine Versprechen bisher nicht ein - weder, was den Truppenabzug an der Grenze zur Ukraine angeht, noch, was den Druck auf die Separatisten im Osten des Landes betrifft.

Sie gelten nicht als großer Freund des Experiments, erstmals europäische Spitzenkandidaten für die Europawahl zu benennen. Glauben Sie, dass dadurch die Wahlbeteiligung steigt, die zuletzt ja ständig rückläufig war?

Van Rompuy Ich hoffe sehr, dass die Wahlbeteiligung steigt. Aber wir sollten ehrlich sein: Europawahlen sind zu einem großen Teil Abstimmungen über die Politik der jeweiligen nationalen Regierung. Hinzu kommt: Dies ist die erste Europawahl nach der Schuldenkrise. Viele Menschen machen die EU für die Krise und ihre sozialen Folgen zu Unrecht verantwortlich. Das wird den Wahlausgang mehr beeinflussen als die Spitzenkandidaten.

Wird der Spitzenkandidat der europaweit stärksten Partei am Ende wirklich Kommissionspräsident?

Van Rompuy Wir müssen den Vertrag respektieren. Darin steht, dass der Rat einen Kandidaten vorschlägt - nach Konsultation mit dem Europaparlament und im Lichte des Wahlergebnisses. Der neue Kommissionspräsident benötigt nicht nur eine Mehrheit im Europaparlament, sondern auch unter den Staats- und Regierungschefs im Rat. Und dort geht es nicht nur um den Posten des Kommissionspräsidenten, sondern auch um einen neuen Ratspräsidenten und einen neuen Beauftragten für Außenpolitik. Wir brauchen am Ende ein gut ausbalanciertes Posten-Paket, das die Interessen von Parteien, Geschlechtern, kleinen und großen Staaten sowie Ost- und Westeuropäern berücksichtigt.

Meinungsforscher sagen Populisten und Anti-EU-Kräften bis zu 25 Prozent der Sitze im neuen Parlament voraus. Bereitet Ihnen das Sorge?

Van Rompuy Mir bereitet Sorge, dass immer mehr Menschen Europa offenbar als Bedrohung wahrnehmen. Europa lebt von Vielfalt und dem Willen, seinen Horizont zu erweitern. Wenn Menschen anfangen, ihre Identität negativ zu definieren - etwa in Abgrenzung von Zuwanderern -, dann wird es gefährlich. Wir müssen Europa wieder zu etwas Positivem machen, indem wir bei der Schaffung von Wachstum und Jobs Erfolge erzielen. Außerdem müssen wir die Ängste der Menschen aufnehmen und national wie europäisch alles tun, um etwa gegen Sozialdumping und Missbrauch von Sozialleistungen vorzugehen - aber ohne Grundsätze wie die Freizügigkeit anzutasten.

Wo muss es in der EU denn weiter vorangehen?

Van Rompuy Die Reformagenda ist nicht vom Tisch, auch wenn die existenzielle Bedrohung des Euro vorüber ist. Die Krise hat einen gewissen Handlungsdruck erzeugt. Wir mussten erfolgreich sein, sonst hätten uns die Finanzmärkte sofort sanktioniert. Mein Nachfolger muss diesen Weg ohne solchen Druck weiterführen. Das wird schwer. Schon jetzt spüre ich bei den Staats- und Regierungschefs die Versuchung, zum "Business as usual" zurückzukehren. Das darf nicht passieren. Wenn wir bei der Haushaltskonsolidierung und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu nachlässig werden, dann kann sich die Krise wiederholen.

Anja Ingenrieth führte das Gespräch.

(ing)
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