Analyse Diese Kommission ist Europas letzte Chance

Brüssel · Noch nie hatte die Spitze der EU-Exekutive so viel Macht und Legitimation wie dieses Mal - der Mann, der auf den Wahlplakaten zu sehen war, führt jetzt die Kommission. Jean-Claude Juncker könnte also mehr auf die Bürger hören als auf die Politiker und die Lobbyisten. Nötig wäre es.

Das sind die Mitglieder der EU-Kommission 2014 - 2019
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Das sind die Mitglieder der EU-Kommission

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Foto: afp, ed/RBZ

Das ist neu, das ist demokratischer. Der Mann, der im Europawahlkampf im Frühjahr im Fernsehen und auf Plakaten für sich geworben hat, steht jetzt mit seinem Team an der Spitze der wichtigsten Brüsseler Institution. Die EU-Kommission, die mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 von einer Superbehörde zu einer Art Regierung Europas aufgewertet wurde, ist durch die Wahl von Jean-Claude Juncker zu ihrem Chef jetzt auch demokratisch stärker legitimiert als je zuvor. Das grüne Licht des Europaparlaments für Junckers neues Team bildete gestern den Abschluss des sogenannten Spitzenkandidatenprozesses.

"Mit Jean-Claude Juncker bekommen wir einen starken Kommissionspräsidenten, der ein starkes Mandat vom Parlament erhalten hat", sagt Parlamentspräsident Martin Schulz. "Er verfügt über einen Rückhalt, wie ihn kaum ein Kommissionspräsident vor ihm hatte. Das kann, muss und wird ihn und seine Kommission stärken." Der Chef der Europäischen Kommission könnte also in Zukunft mehr auf die Bürger als auf die Staats- und Regierungschefs sowie auf die Heerscharen von Lobbyisten hören, die sich in Brüssel drängen. Und das ist dringender geboten denn je.

Das ist Jean-Claude Juncker
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Das ist Jean-Claude Juncker

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Foto: afp, TS/AG

Die Euro-Krise samt der Politik zu ihrer Bewältigung, die das Problem nach Ansicht vieler Beobachter noch verschärft hat, haben Europas Einigungswerk so umstritten werden lassen wie nie zuvor. Aus wohlwollendem Desinteresse gegenüber der EU ist vielerorts hasserfüllte Ablehnung geworden. Die beschämend hohe Jugendarbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung, wirtschaftliche Stagnation, ein drohendes Wiederaufflammen der Euro-Krise oder auch der aktuelle Streit um das transatlantische Freihandelsabkommen tun ein Übriges. Insofern führt der Luxemburger Juncker bei allen Möglichkeiten, die das neue Verfahren mit sich bringt, von nun an auch so etwas wie die Kommission der letzten Chance.

Es ist gut, dass sich nun ein Kandidat des Parlaments und damit der Bürger auf den Weg macht, sie zu ergreifen. Das hat aber auch Folgen, die nicht jedem gefallen. Gestärkt wird nämlich ebenfalls das in repräsentativen Demokratien vorgesehene Bindeglied zwischen Bürger und Staat - die Parteipolitik. Zu beobachten war das in den Anhörungen von Junckers Ministern. Im Ganzen hat er eine starke, erfahrene Truppe beieinander, doch hinterließen einige Kommissarskandidaten einen schwachen Eindruck oder wirkten politisch befangen. Bis auf eine Auswechslung und kleine Änderungen am Ressortzuschnitt jedoch ließ die große Koalition von Christ- und Sozialdemokraten mehrere schwarze Schafe passieren. Da überrascht es nicht, dass Grüne und Linke, EU- und Eurogegner sowieso, mit Nein gestimmt und die deutschen FDP-Abgeordneten wie die britischen Tories sich enthalten haben.

Englisch-Patzer deutscher Politiker
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Englisch-Patzer deutscher Politiker

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Große Koalitionen können gut oder schlecht sein. Schafft Juncker nur politisches Wirrwarr mit Bonbons für alle Beteiligten - oder gelingt ihm mit der integrativen Kraft der größten Lager der große Wurf? Die Herkulesaufgabe der nächsten Jahre wird darin bestehen, die ideologischen Gräben zuzuschütten, die Europa derzeit blockieren.

Weder der einseitige Mix von Sparpolitik und Strukturreformen aus dem Berliner Kanzleramt kann die Wirtschaftskrise beenden, noch sind allein Investitionsprogramme dazu geeignet, wie etwa Paris sie fordert - es braucht beides. Brauchen wir mehr oder weniger Europa, um die Depression hinter uns zu lassen? Junckers Ansatz, nur das Nötige europäisch zu regeln, das aber konsequent, ist richtig. Europas Exportnationen müssen offen für freien Handel bleiben, aber nicht auf Kosten von Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz. Der Binnenmarkt birgt noch riesiges Potenzial für die Energiewende, den Verkehr oder die digitale Zukunft - er darf aber nicht in blinder Gleichmacherei enden. Und wo liegt schließlich der Mittelweg zwischen der Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen und dem Eingehen auf die Sorge, die ganze Welt komme nach Europa?

Die Arbeit wird Junckers Team also nicht ausgehen. Nun müssen den Erwartungen und Erklärungen Ergebnisse folgen. 2017 dürften die Briten über ihren Verbleib in der EU abstimmen; nur eine reformierte, ökonomisch erholte und zugleich sozialere Europäische Union dürfte sie dazu bewegen, Mitglied zu bleiben. Andernfalls macht die Gemeinschaft einen weiteren Schritt auf den Abgrund zu. Weit bis zur Kante ist es nicht mehr.

(RP)
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