EU-Kommissionspräsident im Interview Juncker fordert Wege für legale Einwanderung

Düsseldorf · EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach mit unserer Redaktion über Europas Lösungsansätze in der Flüchtlingskrise, neue Milliarden für die Konjunktur, Misstrauen gegenüber Griechenland und die Regelungswut der EU.

Das ist Jean-Claude Juncker
7 Bilder

Das ist Jean-Claude Juncker

7 Bilder
Foto: afp, TS/AG

Nahezu täglich treffen Schreckensnachrichten von Flüchtlingsdramen aus dem Mittelmeer ein. Trifft die EU zumindest eine Teilschuld an der Katastrophe? Was müssen Brüssel und die Mitgliedsstaaten jetzt dringend tun?

Juncker Die jüngsten Tragödien im Mittelmeer berühren uns alle zutiefst. Sie sind nicht nur Ausdruck der Instabilität in unserer Nachbarschaft, sondern ein erneuter, dringlicher Appell an unsere gemeinsame Verantwortung. Jedes verlorene Menschenleben ist eines zu viel. Der Status quo ist deshalb keine Option mehr. Die gesamte EU hat die moralische und humanitäre Verpflichtung zu handeln. Mehr als Betroffenheitsrhetorik brauchen wir nun Taten: wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um weitere Opfer zu verhindern. Der Europäische Rat hat am 23. Juni gezeigt, dass er willens ist in diesem Sinne zu handeln.

Was konkret kann getan werden?

Juncker Auf Basis konkreter Vorschläge der Kommission konnten wichtige Vereinbarungen getroffen werden, etwa dass die Mittel für die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordinierten Missionen im Mittelmehr "Triton" und "Poseidon" mindestens verdreifacht werden. Auch sollen systematisch die Boote der Menschenschmuggler ausfindig gemacht und zerstört werden. Zusätzliche Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen in den Mitgliedsstaaten sollen im Rahmen eines "Resettlement"-Programms geschaffen werden. In diesem Punkt hätte ich mir einen größeren Ehrgeiz der Mitgliedsstaaten gewünscht.

Nicht nur die deutsche Kanzlerin mahnt ein gerechtere Verteilung von Flüchtlingen in Europa an ...

Juncker Ich bin überzeugt, dass wir eine Quotenregelung für die Aufnahme von Menschen von außerhalb der EU brauchen. Wir brauchen hier echte europäische Solidarität, und Mitgliedstaaten müssen Verantwortung übernehmen. Neben den kurzfristigen Maßnahmen brauchen wir aber einen umfassenden Ansatz, um Migration — einschließlich legaler Einwanderung — besser zu regeln. Ich kann Ihnen versichern, dass die Kommission dieses Thema in den kommenden Wochen vorantreiben wird. Die Arbeiten an einer Europäischen Agenda für Migration laufen auf Hochtouren. Wir werden sie schon am 13. Mai vorstellen. Übrigens leistet Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen bereits sehr viel und gehört zu den Ländern, die die Hauptlast schultern.

Mit dem Vorschlag der Kommission für ein 315-Milliarden-Euro-Programm wollen Sie den Wachstumsprozess in Europa antreiben. Sind schwacher Euro, die Staatsanleihenkäufe der EZB und der niedrige Ölpreis nicht schon Konjunkturprogramm genug? Droht nicht eine Überhitzung?

Juncker Die niedrigen Wachstumsraten und die hohe Arbeitslosigkeit in Europa stellen eine der größten Herausforderungen dar. Unsere Antwort hierauf ist ein wohl austariertes Dreieck aus haushaltspolitischer Verantwortung, Strukturreformen und Investitionen. Investitionen waren hierbei lange Zeit das Stiefkind der europäischen Wirtschaftspolitik mit der Folge, dass es heute gilt, eine Investitionslücke von hunderten von Milliarden Euro zu schließen. Dies ist eine Tatsache, die auch durch die günstigeren Rahmenbedingungen nicht weniger relevant wird. Die Gefahr einer Überhitzung sehe ich insofern nicht.

Was sagen Sie denen, die an der Nachhaltigkeit eines solchen Investitionspakets zweifeln?

Juncker Den öffentlichen Kassen fehlt das Geld für Konjunkturprogramme, die ohnehin nur momentane Strohfeuer bleiben würden. Und noch höhere Staatsschulden können kein nachhaltiges Wachstum schaffen. Wir haben deshalb ein Investitionspaket geschnürt, das 315 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen generieren wird. Bildung, Forschung, Energie-, Verkehrs- und digitale Infrastrukturen werden davon ebenso profitieren wie kleine und mittlere Unternehmen. Jobs und Wachstum werden die Folge sein. Die Projekte werden von unabhängigen Experten und nach ihrem EU-Mehrwert und strikten Qualitätskriterien ausgewählt.

EU-Abgeordnete lehnen es ab, dass Sie das Geld für den Fonds für strategische Investitionen aus anderen Programmen holen. Wie wollen Sie die Abgeordneten davon überzeugen, dass sie weniger für ihre bisherigen Programme bekommen?

Juncker Der neue Fonds für Strategische Investitionen ist mit seinem Garantiepuffer das Herzstück der Investitionsoffensive. Investoren brauchen diese Sicherheit. Ohne diese Garantie bliebe der Investitionsplan eine Träumerei. Die Kommission begrüßt das Ergebnis der Abstimmung über die Verordnung zur Einrichtung des neuen Europäischen Fonds für Strategische Investitionen (EFSI) durch die für Haushalt sowie Wirtschaft und Währung zuständigen Ausschüsse des Europäischen Parlaments. Nachdem die Mitgliedstaaten einstimmig ihre Position in Bezug auf den Rechtstext im März festgelegt hatten, bedeutet dieser Schritt, dass die Verhandlungen nun in den Endspurt gehen können.

Wie sieht Ihr Zeitplan aus?

Juncker Die Gespräche zwischen den beiden gesetzgebenden Institutionen sollten zu einer schnellstmöglichen Einigung führen, so dass der Fonds bis zum Sommer steht und das Geld für die ersten Projekte zügig fließen kann. Die Europäische Investitionsbank macht Tempo und hat schon die praktische Vorkehrungen getroffen, um bereits mit einer Vorfinanzierung einiger Investitionsprojekte zu beginnen. Wie immer wird die Kommission die gesetzgebenden Institutionen in den Verhandlungen unterstützen, um rasch zu einem Kompromiss zu kommen.

Gibt es in Europa nicht schon genug Investitionsprogramme?

Juncker In Europa gibt es eine Investitionslücke. Seit 2007 sind die Gesamtinvestitionen um 430 Milliarden Euro gefallen. Alle Länder sind betroffen. Und die bereits getroffenen Maßnahmen sind unzureichend, um diese Lücke zu schließen. Im Rahmen unserer Investitionsoffensive, die die Kommission gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) auf den Weg gebracht hat, leistet die EIB die notwendige technische Unterstützung und Beratung und die Beurteilung der eingereichten Projekte nach strikten Qualitätskriterien, so dass sichergestellt ist, dass das in den Märkten vorhandene Kapital einer sinnvollen und zielgerichteten Verwendung zugeführt wird.

Viele Länder wie Griechenland haben gar nicht die Verwaltungskapazitäten, um das Geld ordnungsgemäß zu beantragen.

Juncker Was Griechenland angeht, warne ich vor einer Überstrapazierung von Klischées. Beim Nutzen der EU-Strukturmittel hat es Griechenland in den letzten Jahren geschafft, nicht zuletzt dank technischer Unterstützung der Kommission, die zugewiesenen Mittel effizienter zu nutzen. Außerdem haben wir vor knapp einem Monat eine "Task Force" unter der Leitung von Vizepräsident Dombrovksis eingesetzt, die die griechische Regierung dabei unterstützt, bestehende EU-Mittel bestmöglich zu nutzen. Dabei handelt es sich sowohl um Mittel aus der vorherigen Finanzperiode von 2007 bis 2013, die sonst "verloren" gehen würden, als auch um Gelder aus dem jetzigen Finanzrahmen bis 2020. Die griechische Regierung kann durch diese technische Hilfe allein in diesem Jahr bis zu drei Milliarden Euro erhalten, die andernfalls — und ohne richtige Beantragung — verfallen könnten. Seit die Arbeitsgruppe um Vizepräsidenten Dombrovskis ihre Arbeit Mitte März aufgenommen hat, sind beispielsweise bereits 180 Millionen Euro ausgezahlt worden.

Sie haben im Schuldenstreit mit Griechenland zwischen Eurogruppe und der griechischen Regierung vermittelt. Jetzt scheint der griechische Ministerpräsident Tsipras nicht zu liefern. Fühlen Sie sich hintergangen?

Juncker Griechenland hat noch einen langen Weg vor sich. Wir haben immer noch nicht die nötige Klarheit über konkrete Reformvorhaben, aber es geht in die richtige Richtung. Was ich zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann ist, dass es keinen Staatsbankrott in Griechenland geben wird. Griechenland ist und bleibt fester Bestandteil der Eurozone. Da ziehen alle Regierungen Europas an einem Strang. Aber im Gegenzug wird von Griechenland erwartet, dass es die mit der Eurogruppe gemachten Vereinbarungen einhält.

Muss Griechenland endlich zu einer nachhaltigen und vertrauenswürdigen Finanzpolitik zurückkehren, um die ständigen Gerüchte um Zahlungsausfälle zu beseitigen?

Juncker Griechenland muss die mit der Eurogruppe eingegangenen Vereinbarungen einhalten und sich unzweifelhaft auf eine nachhaltige und glaubhafte Haushalts- und Finanzpolitik einlassen. Wenn Wahlversprechen umgesetzt werden sollen, müssen sie entsprechend gegenfinanziert werden.

Sie wollen die Zuständigkeit der Kommission reformieren und Teile in die Mitgliedsstaaten zurückgeben. Gibt es schon erste Beispiele?

Juncker Ich möchte die Zuständigkeiten, die uns die Mitgliedstaaten durch die EU-Verträge gegeben haben, so anwenden, dass wir das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Nicht jedes Problem in Europa ist ein Problem, das die EU lösen muss. Meiner Kommission geht es deshalb darum, die wichtigsten Herausforderungen tatkräftig anzugehen und für positive Veränderung zu sorgen. Fragen wie Wachstum und Beschäftigung, Investitionen, der digitale Binnenmarkt, die Energie-Union, Migration, ein faires und ausgewogenes Handels- und Investitionsabkommen mit den USA — das sind Beispiele für die Themen, um die wir uns kümmern und wo Europa gemeinsam besser Ergebnisse erreichen kann als in nationale Alleingänge. Von Duschköpfen und Olivenölkännchen wollen wir die Finger lassen. Wir haben bereits vieles davon angestoßen und wollen uns an Ergebnissen messen lassen.

Sollte nicht bei jeder Richtlinie der Kommission erst eine Zuständigkeitsklausel eingeführt werden, die die Brüsseler Beamten zwingt darüber nachzudenken, ob die Vorschrift wirklich europaweit einheitlich sein muss?

Juncker Es ist nicht ein Haufen wilder, von der Kette gelassener EU-Beamte, die europäische Regeln nach Belieben vorschlagen. Nicht in meiner Kommission. Die Kommission ist ein politisches Gremium, das politisch und auf Basis demokratisch legitimierter Prioritäten entscheidet, welche Initiativen wichtig sind, damit sich die Lage für die Menschen in Europa verbessert. Ihre Zahl haben wir deutlich reduziert von im Schnitt 130 im Jahr in den vergangenen Jahren auf 23 Initiativen im Jahr 2015. Diese werden gemeinsam mit den anderen EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten besprochen, angenommen und umgesetzt. Ich kann ihnen versichern: Die Zeiten, in denen Europa sich in alles und jedes einmischt, wird es unter meiner Kommission nicht geben. Dafür habe ich eigens einen Vizepräsidenten für bessere Rechtssetzung ernannt: Frans Timmermans, ein erfahrener Politiker, der seine Arbeit bestens macht.

Das Gespräch fassten Martin Bewerunge und Martin Kessler zusammen.

(kes bew)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort