Sozialdemokrat macht Wahlkampf in Portugal Martin Schulz - der Freund der Krisenstaaten

Lissabon · Martin Schulz lässt es gerne menscheln. "Estelle, wo ist mein Handy", ruft der Rheinländer. Seine Assistentin bringt ein uraltes Nokia-Telefon: Internet oder Mailabruf - Fehlanzeige.

Europawahlkampf: Martin Schulz in NRW
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Vor ihm steht ein jungenhafter Start-up Unternehmer und erklärt sein Carsharing-Konzept für Lissabon: bei Bedarf ist das nötige Auto schnell per Smartphone-App gefunden. Martin Schulz zeigt ihm stolz sein Relikt aus der digitalen "Steinzeit". "Das ist so alt, das kann nicht mal von der NSA abgehört werden", scherzt der 58-Jährige.

Der Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten ist auf Wahlkampf-Tour in Portugal. Das "start-up"-Haus in Lissabon versammelt Kreative mit klugen Geschäftsideen. 400 Jobs sind hier in den vergangenen anderthalb Jahren entstanden. Es könnten noch mehr sein, wenn es leichter Kredite und EU-Förderung gäbe. Schulz pusht die digitale Wirtschaft im Wahlkampf als Schlüssel zu Wachstum. Es dürfe nicht sein, dass jemand das Haus seiner Oma verkaufen muss, um eine Firma gründen zu können, wettert der SPD-Mann. Und er verspricht, die Europäische Investitionsbank so umzubauen, dass start-ups künftig leichter an Risikokapital kommen. "Ich versuche ja selber gerade eine Firma neu zu gründen, die Europäische Kommission", sagt Schulz dann noch beim Abschiedsfoto. "Mein Risiko ist ihre Stimme." Dazu hält er das geschenkte Motto-T-Shirt mit dem Slogan "up" in die Kameras. Nomen est omen. Schulz will ganz nach oben. Er möchte einer der mächtigsten Männer Europas werden und auf dem Chefsessel der Kommission Platz nehmen. Dafür reist er unermüdlich durch Europa — wird am 25. Mai an rund 150 Orten quer durch fast alle EU-Staaten gewesen sein.

Schulz gilt als Freund der Krisenstaaten

Portugal ist ein gutes Ziel. Schulz gilt als Freund der Krisenstaaten, weil er gegen zu harte Austerität wettert. Sein Besuch läuft als Top-News über alle Kanäle. Lissabon hat angekündigt, nach einem harten Sparkurs das Hilfsprogramm der Euro-Partner Mitte Mai zu verlassen. Das Land bekam vor drei Jahren 78 Milliarden Euro zur Rettung vor dem Zusammenbruch. Nun kehrt es an die Märkte zurück. Doch die sozialen Folgen der Krise sind noch da. Martin Schulz sieht sie bei der Caritas in Setubal — einer Problemvorstadt von Lissabon. Die Kurse für Analphabeten sind dem Rotstift zum Opfer gefallen.

Unten in dem tristen Bau matschen Kleinkinder mit Fingerfarben. Oben vertreiben sich alte Leute mit Brettspielen die Zeit. Eine Seniorengruppe hat ein Ständchen für den Gast eingeübt: schräg, aber von Herzen. Wer da vor ihnen steht, wissen die alten Damen nicht wirklich. Sie wollen nur in Würde altern dürfen — und freuen sich über die Umarmung des Unbekannten aus Deutschland. Schulz hört zu, knuddelt — macht ein Kümmerer-Gesicht. 80 Arbeitslose melden sich täglich neu bei der Caritas in Setubal — weil sie Hilfe zum Überleben brauchen. 200.000 junge, gut ausgebildete Menschen haben in den vergangenen drei Jahren Portugal verlassen, weil sie dort keine Zukunft sehen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt immer noch bei 38 Prozent.

"Die Krise ist nicht vorbei, nur weil Portugal sich an den Märkten wieder Geld leihen kann. Sie ist vorbei, wenn die sozialen Probleme hier gelöst sind", sagt Schulz. Die Menschen hören das gerne. Schulz ist für sie nicht der abgehobene Eurokrat, sondern der Krisenstaatenversteher aus Brüssel.

Wenn eine ganze Generation mit ihren Lebenschancen für eine Krise bezahle, die verantwortungslose Spekulanten verursacht hätten, zerstöre das nicht nur den Glauben an die EU, sondern das Gewebe der Gesellschaft. "Der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit ist ein Kampf um das Überleben unseres Sozialmodells", sagt Schulz

Sein konservativer Rivale Jean-Claude Juncker sei immer noch auf dem falschen Pfad der "einseitigen Haushaltskonsolidierung", meint der SPD-Mann, der als Berliner Großkoalitionär den Euro-Kurs der Kanzlerin mittragen muss. "Das reicht nicht, um Investoren anzulocken. Wir brauchen den Staat als Investor."

Investitionen in den Zusammenhalt der Gesellschaft oder in Forschung und Entwicklung sollten für die Einhaltung der EU-Defizitkriterien beiseite gelassen werden - als "gute Schulden" gewissermaßen, diktiert Schulz den Reportern in die Blöcke.

Schulz schweigt beim Thema Euro-Bonds

Geld für zusätzliche Ausgaben will er auch aus dem Kampf gegen die Steuervermeidung generieren. Das Wort Euro-Bonds nimmt Schulz allerdings nicht in den Mund. Selbst als der Generalsekretär der portugiesischen Sozialisten bei der gemeinsamen Pressekonferenz einen europäischen Schuldentilgungsfonds fordert, weil die Schulden des Landes sonst nicht tragfähig seien, schweigt Schulz.

Kurz darauf zieht er mit dem Bürgermeister von Lissabon durch die Straßen des Stadtteils Chiado. Junge Partei-Aktivisten halten Martin Schulz-Plakate hoch und verteilen Broschüren, während sich der Tross voranschiebt. "Wer war das?", sagt ein Mann in Businesskleidung verwirrt, als die Wahlkampf-Karawane vorüber ist. Unternehmer Jose Simoes ist hingegen extra gekommen, um Schulz zu sehen. Er lebt in Lissabon und Paris. Schulz habe die richtigen Rezepte aus der Krise. "Wir müssen Europa ändern, damit nicht bald Frankreich das Gleiche durchleiden muss wie Portugal", meint der Mittfünfziger.

Schulz bleibt bei einem Straßenmusiker stehen, steckt im zwei Scheine zu. Eine Frau winkt, der Kandidat quatscht sie an. Die deutsche Touristin kennt den SPD-Mann, mag, dass er "sagt, was er denkt". Sie kommt aus der Nähe von Hildburghausen in Thüringen — und ist höchst erstaunt, dass dem Politiker die besten Gastwirte dort genauso geläufig sind wie ihr. Schulz war lange Bürgermeister in Würselen — zufällig die Partnerstadt von Hildburghausen. "Die Welt ist klein", freut sich der Rheinländer aus der Provinz. Er hat die Gabe, nirgendwo fremd zu wirken, findet immer eine Verbindung zu sich und seiner Heimat.

Am liebsten über Literatur — die Leidenschaft des gelernten Buchhändlers. In der 1732 gegründeten Livraria Bertrand geht Schulz regelrecht das Herz auf. Er mag Fernando Pessoas "Buch der Unruhe", dessen Gefühl für den Rhythmus des Lebens ("große Literatur").

Dem Buchhändler geht das Herz auf

Die Stippvisite im ältesten Buchladen der Welt wird deutlich länger als geplant. "Die können mir mit der Kampagne mal den Buckel runterrutschen, ich will das hier sehen", murmelt er rheinisch-direkt, als sein Wahlkampfteam zum Aufbruch drängt. Fast ehrfürchtig geht er durch die riesigen Räume. "Das ist ein bisschen größer als mein Buchladen in Würselen", scherzt Schulz.

Dann erzählt er von seiner Lehre. Die Buchhandlung Stemmler hatte einen internationalen Pressevertrieb. Damals bekam er dadurch portugiesische Zeitungen in die Finger. Es war die Zeit der Nelkenrevolution, als das Land die autoritäre Diktatur des so genannten Estadu Novo abschüttelte. "Das hat mich damals politisiert", sagt Schulz, der als Jugendlicher in die SPD eintrat. Die Politik und die Bücher haben ihm gewissermaßen das Leben gerettet.

Denn eigentlich wollte Schulz Fußballprofi werden. Als dieser Traum nach einer schweren Knieverletzung platzte, begann Schulz zu trinken — so viel, bis er alles verlor und sich umbringen wollte.

Er kämpfte sich zurück ins Leben und die Karriereleiter hinauf: er gründete seine eigene Buchhandlung, die es heute noch gibt. Mit 31 war er dann Stadtoberhaupt in seiner Heimat Würselen und jüngster Bürgermeister Nordrhein-Westfalens. 1994 wurde Schulz ins Europäische Parlament gewählt — 2012 sogar Präsident der EU-Volksvertretung. Nun hat er Aussichten, der mächtigste Mann Europas zu werden. Jeden Abend schreibt er Tagebuch - auch um "sich selbst daran zu erinnern, dass man auf dem Boden bleiben muss.”

Hinter dem forschen Verbal-Polterer und dem Staatsmann mit Ego kommt immer mal wieder der Junge aus einfachen Verhältnissen hervor — dessen Vater die siebenköpfige Familie mit 517 Mark Polizistensalär über Wasser halten musste. Ein bisschen Masche ist dabei, aber auch viel Menschlichkeit.

So trägt Schulz immer ein kleines, blaues Plastik-Nilpferd in seiner Sakko-Tasche herum. Seine Tochter gab es ihm, als sie sechs Jahre alt war — damit der Papa unterwegs sicher ist und Glück hat. Da ahnte sie noch nicht, wie weit der Vater mit dem Talisman auf dem Globus herumkommen würde. "Das ist nun das meist gereiste Hippo der Welt”, sagt Schulz und steckt die Überraschungsei-Figur wieder ein. Vielleicht ist es bald auch das ranghöchste Hippo überhaupt — sollte es mit dem Einzug in die Chefetage der Kommission klappen.

(felt)
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