Nach Cox-Attentat Der Brexit-Wahlkampf geht in die heiße Phase - EU-Lager knapp vorn

London · In der ersten Umfrage seit dem tödlichen Angriff auf die proeuropäische britische Abgeordnete Jo Cox haben sich die EU-Befürworter wieder vor das Brexit-Lager geschoben. Vier Tage bleiben den beiden Lagern noch für ihren Wahlkampf.

So läuft die Brexit-Abstimmung am 23. Juni 2016 ab
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Foto: dpa, jhe

Laut drei am Sonntag veröffentlichten Umfragen wollen zwischen 44 und 46 Prozent der Wahlberechtigten für eine weitere EU-Mitgliedschaft stimmen. Zwischen 42 und 43 Prozent befürworten dagegen einen Brexit, also ein Ausscheiden aus der EU. Die Briten stimmen an diesem Donnerstag (23.6.) ab.

Drei Tage nach dem tödlichen Angriff auf die britische Labour-Politikerin Jo Cox (41) haben Befürworter und Gegner eines Brexits ihren Wahlkampf am Sonntag wieder fortgesetzt.

Der mutmaßliche Mörder von Cox sorgte am Samstag vor Gericht mit aggressiven Aussagen für Aufsehen. Als der 52-jährige Thomas M. nach seinem Namen gefragt wurde, antworte er: "Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien". Die Richterin deutete daraufhin an, dass es sich um einen geistig Verwirrten handeln könnte.

Im Wahlkampf-Endspurt warnte Premierminister David Cameron in einem Beitrag für die Sonntagsausgabe des "Telegraph" erneut vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexit. Nach einer Entscheidung für einen EU-Ausstieg gebe es "kein Zurück mehr". Zudem stellt sich der britische Premierminister den Fragen eines TV-Publikums (19.45 MESZ/BBC One). Bei der Sendung der BBC-Reihe "Question Time" - Fragestunde am Sonntag, werden keine Vertreter der Brexit-Befürworter dabei sein. Es ist der dritte und letzte TV-Auftritt des Premierministers im Brexit-Wahlkampf.

Michael Gove, Chef der Leave-Kampagne, die sich für einen Austritt aus EU stark macht, sagte dagegen dem "Telegraph", er glaube, ein Brexit werde der britischen Wirtschaft helfen.

Sowohl Gove als auch der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson sprachen sich dafür aus, dass Cameron auch im Fall eines Brexit Premierminister bleibt. Cameron müsse "sehr bald" ein kraftvolles Signal aussenden, dass "wir der Partnerschaft und Freundschaft mit unseren Freunden verpflichtet bleiben", sagte Johnson der Zeitung "The Sun".

Dennoch ließ Johnson keinen Zweifel daran, dass ein Brexit sehr schnell zu Konsequenzen führen könne. Noch vor dem Start von Verhandlungen mit der EU könne die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs über Großbritannien beendet werden. Weitere Schritte seien, "die Mitgliedsbeiträge zurückzuholen" und "die Kontrolle über die Grenzen zurückzuerlangen".

Brok: Raus ist raus - dann gibt es keine Rosinenpickerei

Dagegen warnte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, Elmar Brok, die Briten vor falschen Hoffnungen. Nach einem Ja zu einem Austritt könnten sie keinen neuen Vertrag mit der EU zu besseren Bedingungen aushandeln, sagte Brok der "Neuen Osnabrücker Zeitung". "Raus ist raus", es werde "keine Rosinenpickerei geben".

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sieht im Votum der Briten für oder gegen ein Verbleiben in der Europäischen Union auch "eine Entscheidung über unsere Zukunft". Großbritannien sei der wichtigste Handelspartner Bayerns in Europa und für die EU ein wichtiger Nettozahler, sagte Seehofer der "Schwäbischen Zeitung". Seehofer führt die Ursachen der Euroverdrossenheit auf ein unzureichendes Handeln der politischen Eliten zurück.

Einer Erhebung im Auftrag der "Mail on Sunday" zufolge gaben 45 Prozent der Befragten an, sie würden für einen Verbleib ihres Landes in der EU stimmen. Nur 42 Prozent befürworteten demnach einen Brexit. Die telefonische Umfrage wurde am Freitag und Samstag durchgeführt. Noch am Donnerstag hatte eine Umfrage des selben Instituts die Brexit-Befürworter im gleichen Verhältnis vorne gesehen.

Doch zwei am Sonntag veröffentlichte Umfragen des Instituts YouGov verzeichneten bereits für Mitte vergangener Woche eine Tendenz zugunsten der Brexit-Gegner. Demnach sind 44 Prozent für einen EU-Verbleib und 43 Prozent für ein Ausscheiden.

Die Analysten von YouGov gehen davon aus, dass der Umschwung nicht primär mit dem Mord an Cox in Verbindung steht. Sie führen den Sinneswandel eher auf Ängste vor den wirtschaftlichen Folgen nach einem EU-Austritt zurück.

Nach Auffassung von Nigel Farage hat die Brexit-Kampagne allerdings sehr wohl durch den Mord an Cox an Dynamik eingebüßt. Das sagte der Chef der euroskeptischen Ukip-Partei am Sonntag in einer Talkshow des Fernsehsenders ITV. "Wir hatten eine Dynamik entwickelt, bevor es zu dieser furchtbaren Tragödie kam", sagte der 52-Jährige.

Farage geriet wegen eines Wahlplakats seiner Partei weiter in die Kritik. Auf dem Plakat waren lange Schlangen von Flüchtlingen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise an der österreichischen Grenze zu sehen. Überschrieben war das Plakat mit "Breaking Point, the EU has failed us all" - Die Grenze der Belastbarkeit, die EU hat uns alle enttäuscht. Kritiker warfen Farage Rassismus vor. Der britische Finanzminister George Osborne sagte, das Plakat erinnere an "extremistische Literatur aus den 30er-Jahren". Selbst der Chef der offiziellen Brexit-Kampagne, Michael Gove, sagte am Sonntag, er sei angesichts des Plakats "erschaudert".

(felt/dpa/ap/AFP)
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