London kapselt sich in Europa ab "Noch nie war Großbritannien so isoliert"

London · Der britische Premier David Cameron ist auf dem EU-Gipfel mit seinen Forderungen nach mehr Schutz für den Londoner Finanzdistrikt gescheitert. Jetzt kapselt sich das Königreich von der EU ab. Eine Entscheidung mit unabsehbaren Folgen. Der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Deutschen Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), bringt sogar einen Austritt Großbritanniens aus der EU ins Gespräch.

 In Brüssel gescheitert: David Cameron.

In Brüssel gescheitert: David Cameron.

Foto: dapd, Michel Euler

"Großbritannien braucht die Europäische Union mehr als die Europäische Union Großbritannien", sagte Krichbaum unserer Redaktion. Der Vertrag von Lissabon lasse "ausdrücklich alle Möglichkeiten offen, auch den Austritt eines Landes". Die Briten müssten sich entscheiden, ob sie für oder gegen Europa seien, sagte Krichbaum.

Auch der designierte Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz (SPD), hält ein Ausscheiden Großbritanniens für möglich. "Ich habe Zweifel, ob Großbritannien langfristig in der EU bleibt", sagte Schulz der "Bild am Sonntag". "Cameron schießt ein gigantisches Eigentor. Noch nie war Großbritannien in der EU so isoliert." Britische EU-Gegner würden jetzt Druck auf Cameron ausüben, aus der EU auszusteigen.

Doch warum war Cameron der Schutz der Londoner City vor "unfairen" EU-Steuern so wichtig? Die Antwort ist einfach: Zwar ist der Wirtschaftsmotor des Königreichs mit einer Fläche von nur drei Quadratkilometern im Vergleich zum Rest des Landes so klein wie ein Schweizer Uhrwerk. Doch seine Wirtschaftskraft gleicht (nach Kaufkraft-Parität gerechnet) etwa der eines Staates wie Schweden.

Zehn Prozent des BIP

Die britische Finanzbranche erwirtschaftet etwa zehn Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts, also der Summe aller Güter und Dienstleistungen eines Jahres, und sichert jährlich umgerechnet 59 Milliarden Euro an Steuereinnahmen.

Etwa die Hälfte des Geschäfts wird in der City und im Bankenviertel Canary Wharf abgewickelt, die beiden Standorte machen London zum größten Finanzplatz der Welt. Hier arbeiten rund 400 000 Menschen, die 300 verschiedene Sprachen sprechen. Auf diesem Marktplatz mit 241 ausländischen Banken und 690 börsennotierten ausländischen Firmen werden täglich Devisen im Wert von 1,3 Billionen Dollar gekauft und verkauft. Die meisten Versicherungen werden hier abgeschlossen, und 20 Prozent der globalen Interbankenkredite werden hier abgewickelt.

Viele in der City fürchten, dass diese Geldströme drastisch schrumpfen, wenn die Regierungen in Paris und Berlin eines Tages ihre Idee einer europaweiten Finanztransaktionssteuer durchsetzten. Die City befinde sich unter einer Dauerattacke der EU, kritisierte Cameron. Die Steueridee der Europäer sei ein "Geschoss ins Herz Londons", schimpfte Schatzkanzler George Osborne vor dem Gipfel. "Die City ist mehr gefährdet denn je in meiner 40-jährigen Karriere", klagt der politische Chefstratege des Finanzviertels, Stuart Frazer.

Angst vor "Eurokraten"

Neben der für Großbritannien typischen diffusen Angst vor Übergriffen der "Eurokraten" gibt es auch konkrete Sorgen um die schwindende Konkurrenzfähigkeit des Standorts London, wenn eine Finanztransaktionssteuer eingeführt würde. Schätzungsweise 80 Prozent der europaweiten Einnahmen aus dieser Steuer kämen aus der Geldmaschine City. Das wäre extrem unfair, heißt es in London, wo man Kapitalflucht und einen massiven Jobabbau befürchtet.

Camerons Regierung will sich nach eigener Darstellung nicht grundsätzlich einer neue Bankensteuer widersetzen. Es gehe lediglich darum, eine "nicht globale" Maßnahme zu verhindern, erklärte das Finanzministerium.

Die Tories wurden bei der Machtübernahme 2010 misstrauisch von manchen Bankern beäugt, die Sympathien für die abgewählte Labour-Partei hegten. Gestern eroberte sich der Premier endgültig das Vertrauen der Finanzbranche zurück. "Er sagte in Brüssel genau das, was wir hören wollten", hieß es in den Bankenkreisen.

(RP/csi)
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