Analyse Tsipras benutzt die Nöte der Griechen für seine Ziele

Athen · Egal wie die Volksabstimmung am Sonntagabend ausgeht - zweierlei hat Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras mit seiner radikalen Politik schon bewirkt: Das Land ist tiefer gespalten denn je und international völlig isoliert. Ein Konzept, die Krise in den Griff zu bekommen, ist nicht erkennbar.

Griechenland: Wähler  strömen zu den Wahllokalen
11 Bilder

Referendum: Die Griechen strömen zu den Wahllokalen

11 Bilder

Wohin treibt Griechenland? Darauf weiß vermutlich nicht einmal Ministerpräsident Alexis Tsipras eine Antwort. Ihm scheinen die Geschäfte zu entgleiten. Ideologische Verblendung, politischer Dilettantismus, populistisches Sendungsbewusstsein: eine gefährliche Mischung. Ein Konzept, die eskalierende Krise in den Griff zu bekommen, ist nicht erkennbar.

Oder folgt Tsipras einem raffinierten Plan? Man muss kein Anhänger der in Griechenland so beliebten Verschwörungstheorien sein, um diesen Verdacht zu hegen. Vieles spricht dafür, dass Tsipras eine "geheime Agenda" verfolgt: den Abschied Griechenlands vom Euro, den Austritt aus EU und Nato. Kein Wunder, dass die Solidaritätsadresse des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro, die Griechen sollten sich aus den "Fesseln des internationalen Börsenkapitals und des Internationalen Währungsfonds befreien", in der Athener Regierungszentrale Euphorie ausgelöst haben soll.

Wenn Tsipras an einer Einigung mit den Geldgebern gelegen wäre, hätte er sie in den vergangenen fünf Monaten erreichen können. Zuletzt lag man bei den Sparmaßnahmen offenbar nur noch um 60 Millionen Euro auseinander - ein Klacks. Dass Tsipras die Verhandlungen in letzter Minute platzen ließ, lässt nur den Schluss zu: Er will keine Übereinkunft. Der griechische Premier versäumt keine Gelegenheit, gegen die Gläubiger des Landes zu hetzen. Die Geldgeber der Euro-Staaten bezichtigt er der "Erpressung", den Internationalen Währungsfonds nennt er kriminell. So redet nur jemand, der den Bruch will. Dass Tsipras im Wahlkampf gelobte, er wolle Griechenland im Euro halten, heißt nichts: Er musste so reden. Schließlich wollen drei von vier Griechen an der gemeinsamen Währung festhalten.

Ein Ergebnis der Volksabstimmung steht bereits fest, bevor die Wähler zu den Urnen gehen: Mit seiner Politik der Polarisierung hat Tsipras die Griechen tief gespalten. Diese Zerrissenheit schwächt das Land umso mehr, als die Regierung mit allen Partnern in Europa gebrochen hat. Griechenland ist völlig isoliert - ein Land ohne politische Freunde und Verbündete. Das spüren die Griechen. Sie sind verunsichert und ratlos. Viele stehen am Sonntag zudem vor einem persönlichen Zwiespalt: Einerseits will die überwältigende Mehrheit am Euro festhalten. Andererseits wollen sie keine weiteren Sparmaßnahmen. Tsipras will dieses Dilemma ummünzen in ein Nein bei der Volksabstimmung.

Aber der Premier ist dabei, sein Land in eine ungewisse Zukunft, ja ins Chaos zu führen. Vor einem Jahr war Griechenland auf dem Wachstumspfad, hatte Zugang zu den Kapitalmärkten. Seit Tsipras regiert, fällt das Land in die Rezession zurück. Jetzt öffnet er die Tür zum Abschied vom Euro. Bankenschließungen und Kapitalkontrollen sind ein Vorgeschmack dessen, was den Menschen bevorstehen könnte.

Die Griechen werden am Sonntag entscheiden, ob sie ihrem Premier auf dem eingeschlagenen Weg folgen wollen. Wie soll Europa mit dem Referendum umgehen? Wahlempfehlungen, wie sie in dieser Woche Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem mit seiner Warnung vor einem Nein abgab, sind da eher kontraproduktiv.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort