Stimmen zum Brexit "Ein Sieg für anständige Leute"

Düsseldorf/London · Entsetzen in Europa: Die Briten haben mehrheitlich für den Austritt aus dem Bündnis votiert. David Cameron hat seinen Rücktritt angekündigt. Wir sammeln die Reaktionen.

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Nach Auszählung ist klar, die Briten wollen die EU verlassen. Knapp 52 Prozent stimmten für einen Austritt. Damit steht die Brexit-Kampagne um den früheren Londoner Bürgermeister Boris Johnson und den Ukip-Chef Nigel Farage als Sieger da. Der britische Premierminister David Cameron kündigte nach Veröffentlichung des Abstimmungsergebnisses seinen Rücktritt als Regierungschef an. Bis Oktober möchte er noch im Amt bleiben. Danach solle ein anderer die Austrittsverhandlungen führen.

Das Votum der Briten für einen Ausstieg aus der Europäischen Union hat am Freitag die Aktienmärkte in Europa und Asien einbrechen lassen. Der Dax fiel im frühen Handel um 8,00 Prozent auf 9436,92 Punkte. Zwischenzeitlich hatte der deutsche Leitindex sogar zehn Prozent verloren. Auch der Erdölpreis und der US-Handel waren von der Vorhersage betroffen. Das britische Pfund stürzte im Vergleich zum Dollar auf den tiefsten Stand seit 31 Jahren ab.

Brexit-Anführer Nigel Farage, der noch kurz nach Schließung der Wahllokale offenbar von einer Niederlage ausging, äußerte sich nach Auszählung von rund 70 Prozent der Wahlbezirke euphorisch. Der 23. Juni solle als Unabhängigkeitstag Großbritanniens gelten, erklärte der Chef der rechtspopulistischen und EU-skeptischen Partei Ukip. Er hoffe, der Triumph der Brexit-Befürworter werde das gescheiterte Projekt der Europäischen Union in die Knie zwingen. "Wir werden das geschafft haben, ohne kämpfen zu müssen — ohne dass auch nur eine einzige Kugel abgefeuert werden musste", sagte Farage am Freitag zum Ausgang des Brexit-Referendums. "Über einem unabhängigen Vereinigten Königreich bricht das Morgenrot herein", rief Farage unter dem Jubel seiner Anhänger in London. "Wenn die Voraussagen nun stimmen, wird dies ein Sieg für echte Leute, für gewöhnliche Leute, für anständige Leute sein."

Der niederländische rechtspopulistische Politiker Geert Wilders freute sich ebenfalls über den voraussichtlichen Brexit. Er forderte auch ein niederländisches Referendum.

Die Chefin von Frankreichs rechtsextremer Front National, Marine Le Pen, hat nach dem Brexit-Votum in Großbritannien weitere Abstimmungen in den EU-Mitgliedsstaaten gefordert. "Sieg der Freiheit!", schrieb Le Pen am Freitagmorgen auf Twitter. "Wie ich es seit Jahren fordere, brauchen wir jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und in den Ländern der EU."

 Nigel Farage freut sich auf der Leave-EU-Party über den Brexit.

Nigel Farage freut sich auf der Leave-EU-Party über den Brexit.

Foto: dpa, tba

Politiker aus der ganzen Welt, der Internationale Währungsfonds (IWF), Wirtschaftsverbände und Banker in London und in Festland-Europa hatten immer wieder vor dem Brexit gewarnt. Sie fürchteten im Falle eines Austritts globale Turbulenzen in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten. Auch deutsche Unternehmen waren besorgt. Ein Drittel der Hälfte der Dax-Werte standen nun am Freitagmorgen prozentual zweistellig im Minus. Vor allem Bankenwerte gerieten massiv unter Druck. Die Aktien der Deutschen Bank und der Commerzbank brachen zwischen 15 und 16 Prozent ein.

"Alle sind falsch positioniert", sagte ein Börsianer am frühen Morgen. "Keiner hat damit gerechnet, dass die Briten wirklich austreten. Jetzt gibt es immensen Absicherungsbedarf." Seit Mitte der Vorwoche war der Dax in zunehmender Hoffnung auf einen Verbleib der Briten noch um fast neun Prozent angesprungen.

"Das ist kein guter Tag für Europa. Die Konsequenzen lassen sich noch nicht vollständig absehen. Sie werden aber für alle Seiten negativ sein", sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank John Cryan am Freitag. "Lassen Sie mich als Brite und Europäer aber noch eines hinzufügen: Ich bin ein überzeugter Anhänger der europäischen Idee. Diese hat uns mehr als 50 Jahre Frieden und Wohlstand gebracht. Deshalb schmerzt es mich, dass Europa für viele meiner Landsleute offenbar an Attraktivität verloren hat. Das ist ein klares Signal an die Europäische Union, wieder näher an die Menschen zu rücken und die Demokratie zu stärken."

Von der anderen Seite des Atlantiks kamen auch erste Stimmen am Morgen nach dem Referendum, etwa von der Bostener Tageszeitung "The Boston Globe".

Die Harry-Potter-Erfinderin Joanne K. Rowling twitterte resigniert:

Von deutscher Seite äußerte Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD) als erstes seine Enttäuschung bei Twitter.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erklärte, die Nachrichten aus Großbritannien seien "wahrlich ernüchternd", wie das Auswärtige Amt am Freitag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mitteilte. Es sehe nach einem "traurigen Tag für Europa und Großbritannien" aus. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley hat nach er Brexit-Entscheidung der Briten schnelle Konsequenzen gefordert. "Es darf jetzt kein langes Hin und Her geben. Großbritannien muss die Konsequenzen aus dieser Entscheidung ziehen und die EU verlassen", sagte die SPD-Politikerin unserer Redaktion. Barley, deren Vater Brite ist, sagte: "Der Ausgang des Referendums tut weh." Ihr tue es besonders um die jungen Menschen in Großbritannien leid. Sie hätten offenbar zu 75 Prozent für den Verbleib gestimmt und ihre Zukunft in der EU gesehen.

Die Spitze der Linkspartei hat nach der Entscheidung der Briten für einen EU-Ausstieg eine Reform der Europäischen Union verlangt. Der Brexit stürze die EU in eine schwere Krise, schrieb Parteichef Bernd Riexinger am Freitag im Kurznachrichtendienst Twitter. "Dringender als je zuvor braucht es jetzt eine soziale und demokratische EU." Co-Chefin Katja Kipping twitterte, Neoliberalismus und Austerität (Sparpolitik) hätten den Boden für Nationalismus und Europaskepsis bereitet. Der Brexit sei ein "Weckruf für einen Neustart in Europa".

"Die Entscheidung ist ein Rückschlag für das geeinte Europa", sagt Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender von CDU/CSU im Bundestag. Und die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, warnte vor Schnellschüssen. "Renationalisierung ist in Anbetracht der Herausforderungen auf unserem Kontinent und in der Welt nicht der richtige Weg." In Großbritannien habe "Emotionalität gegen Rationalität gewonnen". Die Entscheidung müsse weiterer Antrieb sein, um die EU zu verbessern.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) fürchtet nach dem Brexit keine weiteren Austritte aus der Europäischen Union. "Die Kettenreaktion wird es nicht geben", sagte Schulz am Freitag im "Morgenmagazin" des ZDF. Zur Begründung verwies er unter anderem auf die negativen Reaktionen von Wirtschaft und Börse auf die Entscheidung der Briten für einen Austritt aus der EU. "Ich glaube nicht, dass andere Länder dadurch ermutigt werden, diesen gefährlichen Weg zu gehen", sagte Schulz.

Im ZDF gab der EU-Abgeordnete Elmar Brok (CDU) dem britischen Premier David Cameron eine Mitschlud am Ergebnis des Referendums. Er habe die EU zehn Jahre schlecht geredet. Die Fraktionsvorsitzenden des EU-Parlaments tagen zur Stunde in Brüssel. Am Freitag treffen außerdem der EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk, Parlamentspräsident Schulz sowie dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte, dessen Land derzeit den EU-Vorsitz innehat, zusammen. Am Samstag kommen dann die Außenminister der sechs EU-Gründungsstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg) in Berlin zusammen.

(heif/dpa/afp/AP)
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