Gastbeitrag von Udo di Fabio Europa braucht eine Inventur

Düsseldorf · Schlanker ist besser. Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio fordert eine Überholung der Kompetenzen in der EU. Die europäische Asylpolitik sei gut gemeint, aber in der Realität praktischer Politik gescheitert.

Udo di Fabio: Europa braucht eine Inventur
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Im demokratischen Rechtsstaat gilt das Recht, weil es so beschlossen ist. Ob es in sich stimmig, ob es gerecht ist, ob es die Freiheit fördert, den Frieden oder den Wohlstand: All das muss politisch mit Mehrheit entschieden werden. Noch im 19. Jahrhundert war umstritten, ob der Staat Recht setzen kann, wie es ihm beliebt oder ob Gesetzgebung nicht zumindest auch an ein größeres Denksystem, an Vernunft, an Tradition gebunden bleiben soll.

Durchgesetzt hat sich die Positivierung des Rechts - die Vorstellung, dass prinzipiell beliebiges Recht gesetzt werden kann, allenfalls durch Grundrechte begrenzt. Die Schranken der Verfassung sind wichtig, aber die Vorstellung mit Recht jedes gesellschaftliche und politische Ziel verwirklichen zu können, ist fragwürdig. Kluges Recht gibt der Gesellschaft eine Ordnung zur freien Entfaltung. Blinde Rechtssetzung dagegen ignoriert die Bedingungen für die Verwirklichung des Gesetzes.

Die europäische Integration war stets ein Musterbeispiel kluger Vertragsgestaltung. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft geht zurück auf die Römischen Verträge, die 1958 mit vier Grundfreiheiten und der Idee eines gemeinsamen Marktes ohne Zölle, Handelshemmnisse und Staatsbeihilfen in Kraft traten. Eine der Grundfreiheiten war die Freizügigkeit, die nicht erst mit Schengen eingeführt worden ist, sondern eine der Kernbotschaften von 1958 darstellt. Mit Schengen sind lediglich die Personenkontrollen an den Grenzen ausgesetzt worden.

Freizügigkeit, Kapitalverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und Warenverkehrsfreiheit - das sind die vier Garanten, auf die sich die europäische Integration stützt. Der Protektionismus der Staaten, diese unheilvolle Mechanik der europäischen Geschichte der Neuzeit, sollte ausgehebelt und durch einen gemeinsamen Markt ersetzt werden. Diese Integrationslogik der ersten Phase hat gut funktioniert. Insgesamt erwies sich die neue Wirtschaftsordnung als dynamische Idee, genauso wie Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft. Der Binnenmarkt und die Verhandlungsmethode wurden ein weltweit anerkanntes Erfolgsmodell.

 Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio fordert in einem Gastbeitrag eine Überholung der Kompetenzen in der EU

Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio fordert in einem Gastbeitrag eine Überholung der Kompetenzen in der EU

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Das europäische Recht, das die alten Regeln der Mitgliedstaaten harmonisierte, diese Richtlinien und Verordnungen funktionierten bei aller manchmal überschießenden Liebe zum Detail recht gut. Sie passten zur Ordnungsidee des Binnenmarktes ebenso wie zur politischen Agenda eines Zusammenwachens. Wir erwarten, dass die Kommission Wettbewerbsverstöße ahndet und über die Beihilfekontrolle wacht.

Mitte der 1980iger Jahre wuchs der politische Ehrgeiz aber und machte die Wirtschaft zu ihrem Instrument. Wie kommt man vielleicht doch zu den Vereinigten Staaten von Europa? Eine dieser Ideen war die Währungsunion. Es gab gute Gründe, aber sie war ein politisches Projekt, um zu mehr Einheit zu kommen. Zu dieser Zeit wurden auch eine gemeinsame Asylpolitik und Schengen auf den Weg gebracht. Diese zweite Integrations-Phase unterscheidet sich erheblich von der ersten. Diesmal wurde nicht durchgängig ein konsistenter Ordnungsrahmen für die Wirtschaft vorgegeben, sondern direkt politisch gestaltet.

Die EU greift in die Kernkompetenz der Mitgliedstaaten ein. Die Währungsunion folgt zwar mit ihren Konvergenz- und Stabilitätskriterien einer konsistenten Ordnungsidee, aber die fiskalische Disziplin und der Verlust der Schwankungsbreiten im Währungssystem legen Regierungen und Parlamente an eine kurze Leine und daran zerren nun demokratische Kräfte ebenso wie populistische.

Es ist eine Kluft zwischen dem entstanden, was die EU als Gesetze verabschiedet, und dem, was politisch von den Menschen getragen wird. Die Dublin-Verordnung und die EU-Asylaufnahmerichtlinie beschreiben mit Präzision, welche Rechte einem Asylbewerber zustehen. Unklar bleibt, ob und welcher Staat eigentlich zur Aufnahme verpflichtet ist. Die Solidarität bei der quotalen Aufnahme von Schutzsuchenden findet keine Grundlage in Rechtstexten, schon weil manche Regierung sich hüten wird, derart sensible Fragen durch andere bestimmen zu lassen.

Die EU-Asylpolitik krankt daran, dass sie in den zentralen Entscheidungen einen Graben entstehen lässt zwischen einer sehr sympathischen humanitären Absicht und der Wirklichkeit praktischer Politik. Für die Unterbringung von Asylbewerbern und die Bearbeitung ihrer Verfahren sind die Staaten mit einer EU-Außengrenze bislang auch deshalb zuständig, weil man damit einen Anreiz für die effektive Sicherung der Außengrenze setzen wollte. Das hat nicht an jeder Grenze und nicht zu jedem Zeitpunkt funktioniert.

Es ist blauäugig zu meinen, man könne in Brüssel eine Verteilungsmechanik für Migration festlegen und durchsetzen. Dies ignoriert die demokratischen Bedingungen in den Staaten. Ein Staat wird immer darüber entscheiden wollen, wer in seinem Lande lebt und für wen dieser Staat dann eben auch seine territoriale Schutzverantwortung ausübt. Die Vorstellung, Europa werde politisch und wirtschaftlich zu einer Einheit, indem man einfach neues Recht in Brüssel erlässt und alles vereinheitlicht, ist falsch. Bereits im ersten Artikel des EU-Vertrages steht die Formulierung der "immer engeren Union der Völker Europas". Dieses Bild klingt gut, hat aber im Vereinigten Königreich beunruhigend geklungen.

Man kann es ideell verstehen: als kulturelles Näherrücken, mehr Verständnis füreinander. Aber manche Engländer verstanden es praktisch nach dem Bild eines Hauses mit 28 Wohnungseigentümern. Wenn die Eigentümer beschließen, zur Wahrung des Hausfriedens immer enger aneinanderzurücken, was bedeutet das? Müssten dann nicht irgendwann die Wände eingerissen werden. Und steht nicht irgendwann ein Nachbar im Raum und will seine Rechnungen beglichen haben?

Es ist an der Zeit für ein neues Leitbild. Es geht um eine Inventur der Kompetenzen und der Machtverteilung. Das heißt nicht, eine Welle der Renationalisierung. Wer vernünftig auf die EU schaut, der wird sagen: Europa muss weiter mit praktischen Lösungen in einem fairen Rahmen der koordinierten Eigenverantwortung überzeugungskräftig sein. Was die Bürger wünschen, ist etwa, dass ein Unterstützungssystem wie Frontex schlagkräftiger wird. Genauso ist es möglich, die Streitkräfte der Mitgliedstaaten besser zu integrieren, wie wir das aus der Nato kennen, ein regionaler Arm, der wirksamer handeln kann in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit.

Also: Mehr Europa in der Außen- und Sicherheitspolitik. Es gibt aber auch Möglichkeiten den Mitgliedstaaten Handlungsfreiheiten zurückzugeben, wenn es nicht gerade Kernkompetenzen wie die gemeinsame Handelspolitik betrifft. Das Recht muss ernster genommen werden. Damit es ernster genommen werden kann, sollte es verschlankt werden. Wir brauchen weniger bürokratische Gängelung.

Es wäre an der Zeit zu fragen, welche Kompetenzen zu allgemeinen Rahmenkompetenzen zurückgestuft werden können. Es ist an der Zeit, um eine EU zu kämpfen, die ihre Balance wiederfindet, die sich wieder um ein konsistentes Recht bemüht und übertriebene Harmonisierungsvorgaben zurückstutzt. Es darf nicht sein, dass Europa von seinen Bürgern in erster Linie als Korsett empfunden wird - und darüber in Vergessenheit gerät, dass diese Union ein notwendiger Raum der freien Entfaltung von Persönlichkeit für alle Unionsbürger ist und bleiben muss.

(RP)
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