Karlsruhe kippt Drei-Prozent-Klausel bei Europawahl Der Weg ist frei für Deutschlands Populisten

Karlsruhe · Jubel auf der einen Seite, Sorgenfalten auf der anderen: Karlsruhe erhört die kleinen Parteien und kassiert die Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen. Die klagenden Parteien freut es. Vertreter von Deutschlands Volksparteien reagieren mit Argwohn. CDU-Politiker Herbert Reus warnt vor Radikalen und Verrückten.

Das Europaparlament in Zahlen
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Foto: dpa, Patrick Seeger

Anfang Februar bereits äußerte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble seine Bedenken, dass das Schweizer Votum für Beschränkungen bei der Zuwanderung auch Auswirkungen auf die Europawahl haben könnte. Rückenwind für Rechtspopulisten — das dürfe es nicht geben. Europa müsse sich deutlich von seinen radikalen Skeptikern distanzieren.

Und nun das: Ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht beschert der Alternative für Deutschland (AfD), der rechtsextremen NPD und Co. ordentlich Rückenwind. Das Aus für die deutsche Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen wurde von den Klägern mit Freude aufgenommen. Geklagt hatten 19 Gruppierungen - von der Piratenpartei über die Freien Wähler bis zur rechtsextremen NPD.

Kritik von SPD und Union

Nun reicht einer Partei ein Stimmenanteil von etwa einem Prozent für ein Mandat im Europaparlament aus. Wäre die Sperrklausel schon 2009 gefallen, säßen derzeit etwa die rechtskonservativen Republikaner, die Tierschutzpartei, die Partei Familie, die Piraten und die Freien Wähler im Straßburger Parlament.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sagte: "Ich nehme diese Entscheidung mit Respekt entgegen, auch wenn ich mir ein anderes Ergebnis gewünscht hätte. Die demokratischen Parteien seien nun noch mehr gefordert, einen engagierten Wahlkampf zu führen. "Jetzt kommt es darauf an, dass wir für die Europawahl im Mai so mobilisieren, dass möglichst keine extremistischen Parteien ins Europaparlament einziehen."

SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann kritisierte das Urteil. "Ziel des Gesetzes war es, einer Zersplitterung des Europäischen Parlamentes vorzubeugen." Nach dem Urteil der Karlsruher Richter komme es jetzt darauf an, eine Zersplitterung politisch zu vermeiden. "Wir wollen alles dafür tun, dass extreme und rechte Parteien aus Deutschland keinen Platz im neuen Europäischen Parlament haben."

Auch SPD-Bundesvize Ralf Stegner hat die Entscheidung mit Bedauern zur Kenntnis genommen. "Es ebnet den Weg für Rechtspopulisten und Anti-Europäer, von denen es im Europäischen-Parlament schon genug gibt."

Freude bei Piraten und NPD

Ähnlich sorgenvolle Töne waren aus den Reihen der Unionsparteien zu hören. Es werde "Splitterparteien und radikale Kräfte aus Deutschland im Europäischen Parlament" geben, erklärten der Vorsitzende und der Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe in der Volksvertretung, Herbert Reul (CDU) und Markus Ferber (CSU), in Brüssel.

"Ich halte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für ein Riesenproblem und einen Fehler. In den meisten EU-Ländern gibt es eine Sperrklausel bei der Wahl, und wir im Europäischen Parlament haben uns vom Grundsatz her gerade erst darauf verständigt, eine Hürde einzuführen", mahnte der Unionspolitiker.

"Arroganz und Ignoranz"

"Wir werden jetzt viele Einzelkämpfer bekommen, die alle finanziell unterstützt werden wollen. Radikale und Verrückte werden ins Parlament einziehen und die Arbeit erschweren. Ich sehe die Krokodilstränen schon vor mir, wenn die NPD im Parlament sitzt. Dieses Urteil erschüttert mich", sagte Reul unserer Redaktion.

Sein Parteikollege Axel Voss, Europa-Abgeordneter für die Region Mittelrhein, warf dem Bundesverfassungsgericht Ignoranz und Arroganz vor. "Damit beweist es ein­mal mehr, dass es von der euro­päi­schen Rea­li­tät weit ent­fernt ist und lie­ber in 'recht­li­cher Schön­heit ster­ben' will, als das deut­sche Recht den gege­be­nen euro­päi­schen Not­wen­dig­kei­ten anzu­pas­sen", monierte der Rechts­an­walt am Rande der Ple­nar­sit­zung in Straß­burg.

Die euroskeptische Alternative für Deutschland (AfD) sprach von einem guten Signal für die Demokratie in Europa. Zum ersten Mal müssten die Wähler in Deutschland nicht befürchten, dass ihre Stimme womöglich verschenkt sei.

Die Kläger sind begeistert

Naturgemäß fielen die Reaktion auf Seiten der Kläger anders aus. Der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Thorsten Wirth, sagte, mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei gewährleistet, "dass bei der kommenden Europawahl nicht wieder - wie vor fünf Jahren - ein erheblicher Teil der Wählerstimmen unter den Tisch fällt".

Erfreut zeigte sich auch die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP). "Das Urteil der Bundesverfassungsrichter stärkt die Demokratie", erklärte betonte ihr Vorsitzender Sebastian Frankenberger.

Ein positives Echo kam auch von der Linken, die von Anfang an gegen die Drei-Prozent-Hürde war. Parteichef Bernd Riexinger schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter: "Zugangshürden für Parlamente sind Demokratiehürden." Auch Hans-Christian Ströbele von den Grünen, der im Gegensatz zu seiner Fraktion im Bundestag ebenfalls gegen die Sperrklausel gestimmt hatte, sieht sich bestätigt.

Die 3-Prozent-Hürde für die Europawahl ist Geschichte. Das ist gut so. Zugangshürden für Parlamente sind Demokratiehürden. Wir freuen uns.

Die rechtsextreme NPD feierte das Urteil. Auf ihrer Facebook-Seite schrieb sie: "Dadurch wird die NPD schon mit ihrem Stimmanteil der Bundestagswahl aufgrund der niedrigeren Wahlbeteiligung bei der Europawahl am 25. Mai mit zwei Abgeordneten ins Europaparlament einziehen!"

Parlament hat 766 Mitglieder

Das Europäische Parlament hat derzeit 766 Mitglieder. Sie werden alle fünf Jahre von den Wahlberechtigten der 28 EU-Mitgliedstaaten gewählt. Aus Deutschland sind 99 Abgeordnete gewählt. Nach der kommenden Europawahl im Mai soll die Zahl der Abgeordneten geringfügig verringert werden. In Deutschland wird am 25. Mai gewählt.

In neun EU-Staaten benötigen Parteien fünf Prozent der Stimmen, um Abgeordnete ins Europaparlament entsenden zu können. Diese Sperrklausel gilt in Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Ungarn, in der Slowakischen Republik und in der Tschechischen Republik. In Frankreich gibt es ebenfalls eine Fünf-Prozent-Hürde, die zudem noch in jedem Wahlkreis erreicht werden muss. Insgesamt gibt es in Frankreich acht Wahlkreise, in einem davon sind die französischen Überseegebiete zusammengefasst.

Italien, Österreich und Schweden haben die Hürde auf vier Prozent festgesetzt. In Griechenland gilt eine Sperrklausel von drei Prozent. Zypern hat mit 1,8 Prozent die niedrigste Hürde vorgeschrieben. In 14 der 28 EU-Staaten gibt es keine gesetzlich vorgeschriebene Sperrklausel, unter ihnen ist nach dem Karlsruher Richterspruch nun auch Deutschland.

(nbe)
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