Gastbeitrag von Martin Schulz Was Europa jetzt tun muss

Meinung | Brüssel · Die griechischen Familien, die Alten, die Kranken und die Einkommensschwachen sind die Verlierer des griechischen Dramas, schreibt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Er plädiert deshalb für humanitäre Gelder. Athen müsse zudem neue Reform-Vorschläge machen.

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Das Abstimmungsergebnis in Griechenland hat die Lage in Europa deutlich verkompliziert. Das griechische Volk ist trotz des klaren Ergebnisses gespalten und in den europäischen Hauptstädten mehren sich die Stimmen, die nun einen schnellen Austritt Griechenlands aus dem Euro befürworten.

Die griechischen Banken sind weiter geschlossen, und es ist nicht absehbar, wann sich diese Situation ändern wird. Das ist vor allem für diejenigen hart, die auf Bargeld angewiesen sind, um damit das Notwendigste zum Leben zu kaufen. Sie — die griechischen Familien, die Alten, die Kranken und die Einkommensschwachen — sind damit die eigentlichen Verlierer des griechischen Dramas.

Sie dürfen wir nicht alleine lassen, und deshalb plädiere ich dafür, dass wir humanitäre Gelder zur Verfügung stellen, um hier schnell zu helfen.

Natürlich ist das Referendum ein legitimer Akt der demokratischen Willensbildung des griechischen Volkes gewesen. Deshalb sind alle gut beraten, das Ergebnis der Abstimmung ernst zu nehmen, auch wenn einige darauf verweisen, dass es eine zu einseitige Kampagne gab. Ob Alexis Tsipras seinem Volk einen Gefallen getan hat, als er suggeriert hat, nach einem Nein würden die Verhandlungen mit Brüssel einfacher, ist zweifelhaft.

Der schnelle und überraschende Rücktritt seines Finanzministers — der seine Finanzministerkollegen jüngst als Terroristen beschimpft hatte — zeigt, dass der deutliche Sieg der Regierung beim Referendum vielleicht nur ein papierener Sieg war.

Klar ist: Nach Jahren des Sozialabbaus und des Dauersounds der Krise wollten viele Griechen an eine einfache Lösung glauben. Das kann ich nachempfinden. Aber eine einfache Lösung wird es nicht geben. Das zeigt sich schon jetzt an der Reaktion in vielen Hauptstädten.

Deshalb ist es nun an der griechischen Regierung, neue Vorschläge zu machen und die 18 anderen Euro-Staaten zu überzeugen. Denn auch diese Regierungen sprechen demokratisch genauso legitimiert, wie die Athener Regierung es für sich reklamiert. Alle Seiten müssen nun aufeinander zugehen. Deshalb ist es gut, dass die demokratischen Kräfte in Griechenland jetzt enger zusammenrücken wollen. Alle müssen rhetorisch abrüsten, denn es geht nicht um ideologische Schlachten oder um verletzte Gefühle. Dafür ist in der Politik angesichts einer so ernsten Krise kein Platz.

Vielmehr geht es jetzt darum, dass sich die Verantwortungsträger zusammenraufen und gemeinsam nach pragmatischen und nachhaltigen Lösungen suchen. Dafür sollte uns kein Weg zu weit sein.

Der Gipfel am heutigen Dienstag bietet eine gute Chance für diesen erforderlichen Neuanfang. Das zuletzt von Jean-Claude Juncker vorgelegte Angebot war fair, und es berücksichtigte viele der berechtigten Einwände der griechischen Regierung gegen ein einseitiges und fantasieloses Sparprogramm und gegen einen sozialen Kahlschlag, beispielsweise bei den Kleinstrenten: Bei Junckers Vorschlag sollten Investitionen gefördert, Rüstungsausgaben beschränkt und die Mehrwertsteuererhöhung auf medizinische Güter und bei der Energie ausgeschlossen werden. Damit lag ein guter Vorschlag auf dem Tisch.

Eins ist in den vergangenen Wochen mehr als deutlich geworden: Der Erosionsprozess in Europa hat inzwischen eine bedrohliche Dimension angenommen: Bei den verschiedenen Wahlen in ganz Europa haben die Anti-Europäer zuletzt große Erfolge gefeiert, und im rechten und wie im linken Lager gewinnt ein neuer Nationalismus europaweit an Boden.

Nachdem wir in den vergangenen Jahren, dem permanenten Krisenmodus geschuldet, vor allem defensiv und reaktiv diskutiert und gehandelt haben, ist nun aber die Zeit reif, endlich wieder über unsere Zukunftsvorstellungen von Europa zu sprechen. Grexit, Brexit und das beschämende Flüchtlingsdrama im Mittelmeer sollten Grund genug sein, dass wir uns wieder über den Wert Europas als Friedens- und Wohlstandsmacht vergewissern. Denn nur so werden wir das Vertrauen in Europa erneuern können, das wir angesichts der Zukunftsaufgaben so dringend brauchen. Gelingt uns das nicht, wird Europa in der Bedeutungslosigkeit verschwinden und nicht mehr seine Vorstellungen von einer friedlichen, freien, sozialen und ökologischen Welt einbringen können.

(RP)
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